Kleiderordnung (I)

Matthias Berghöfer hatte in der Grundschule seinen ersten großen Streit mit seinem besten Freund, nachdem er erfuhr, dass dessen Braunschweiger die ersten waren, die seine Schalker in der Bundesliga geschlagen hatten. Das war zwar schon lange her – aber wie konnten die nur?

Kleider machen Leute. Oder eben nicht. Wenn man sich nicht an die Kleiderordnung hält, zum Beispiel, dann kann man was erleben.


„Mensch, und ihr hattet hier sogar einen Ministerpräsidenten, der kannte sich bestens mit Dachlatten aus! Reiß dich mal zusammen, Junge!“

Zugegeben, das ist ein bisschen ungewöhnlich als Anfang eines Textes über Kleiderordnung. Aber irgendwie muss man ja bei so einem öden Thema das Interesse wecken und ich verspreche, das erklärt sich noch. Als Fußballfan erlebt man ja sowieso ziemlich seltsame Sachen, manchmal, und nicht selten hat das damit zu tun, dass man nicht nur Fußballfan ist, sondern auch so aussieht. Oder eben gerade nicht.

Ich war beispielsweise mal mit meinem eigenen Hochzeitsanzug im Lohrheide-Stadion. Geheiratet hab ich im Herbst 1997, weil mir im Mai klar wurde, dass ich mir das zum Ausrechnen irgendwelcher Jubiläen ziemlich gut würde merken können. Und dieser Anzug passte mir noch, als ich ein paar Jahre später zu einer Hochzeit in Essen eingeladen wurde. Das war also an und für sich ein schöner Anlass, aber ich bin dann direkt nach dem Ja-Wort aus der Kirche gestürzt und nach Wattenscheid gebrettert, weil da ja der letzte Spieltag der Regionalliga-Saison anstand. Schalke Amateure gegen SC Paderborn. Schalke musste gewinnen, um den Abstieg aus der damals Dritthöchsten Liga vielleicht noch verhindern zu können, Paderborn stand oben, hatte aber den Aufstieg knapp verpasst. Im Block, die Kurve unter dem weltberühmten Grill, erkannte mich erstmal keiner – die dachten, was kommt denn da für‘n Irrer? Und das war schon ein bisschen ungemütlich, aber dann fiel mir Lisa in die Arme. Das Spiel selbst ging 2:4 verloren, aber man bekam ein 60 Meter Lupfer-Tor von Tamasz Hajnal zu sehen und ein Tor von Mike Hanke. Nützte aber nix. Als Schiedsrichter für diese Partie war übrigens ein gewisser Robert Hoyzer angesetzt, der aber kurz vorher zurückgezogen wurde, sodass nur sein ebenfalls später traurige Berühmtheit erlangender Mann an der Seitenlinie dabei war. So stieg Schalke II also ab, auch ohne Beschiss, auch wenn das bei anderen Partien an diesem Tag eher zweifelhaft ist – beispielsweise gewannen die Chemnitzer, die in der Vorwoche auf eigenem Platz gegen Schalke II mit 0:6 untergegangen waren, sensationell bei der oben stehenden Truppe von Borussia Dortmund, deren Nachwuchselfs eh schon seit Jahren bekannt waren fürs Produzieren erstaunlicher Ergebnisse am Saisonende. Und so musste nicht Chemnitz, sondern Wattenscheid 09 ebenfalls den Gang nach unten antreten, zusammen mit Schalke. Ich hab diesen Hochzeitsanzug dann natürlich nie wieder getragen, im Stadion schonmal gar nicht. Sicher ist sicher.

Andersherum werden viele schonmal erlebt haben, dass man als Erwachsener im Fußballtrikot außerhalb eines Stadionbereichs genauso suspekt betrachtet wird – wenn man nicht sogar *gar nicht* angesehen wird, entweder wegen irgendwelcher Befürchtungen oder weil man unsereins dann wirklich für Nicht-Menschen hält. Ähnlich wie Obdachlose in den Straßen, die für die meisten Menschen offenbar wirklich unsichtbar sind und weder gesehen noch gehört werden – denn so kann man sie leichter ignorieren. Daraus ergeben sich dann allerdings auch erstaunliche Erlebnisse, zum Beispiel in Wartebereichen von Flughäfen, wo man mitunter wichtige Geschäftsleute dabei erleben kann, wie sie ihren bedauernswerten grundsätzlichen Charaktermangel beweisen, indem sie im Beisein von Fußballfans ganz ungeniert am Telefon Mitarbeiter entlassen oder die Höhe notwendiger Bestechungssummen diskutieren. Alles schon erlebt. Wäre ich verdeckter Ermittler, ich würde mich mit irgendeinem Trikot, Fähnchen und Bierflasche in der Hand ganz offen in einen Abflughalle setzen.

Auch abenteuerlich ist der Besuch von Museen oder Gemäldesammlungen im Trikot. In der Stuttgarter Gemäldegalerie, auf der Reise zum letzten Auswärtsspiel der Schalker im Münchner Olympiastadion (Auswärtssieg natürlich, Asamoah-Bude. Die mussten sich in München danach ein neues Stadion bauen, harrharr) bekam ich mal meinen persönlichen Securityposten als Begleiter. Der schlich immer ganz unauffällig in 20 Meter Abstand hinter mir her. Bis ich ihn vor einem besonders schönen Werk von Otto Dix fragte, was denn passieren würde, wenn ich das jetzt von der Wand risse und durch die Glastür ins Freie flüchtete. Da wurde er ganz blass und griff zum Funkgerät. Hab’s natürlich nicht gemacht, wär ja blöd gewesen, das in meinem 99er Veltins-Trikot zu tun, auf dem hinten groß und breit mein Name steht.

Etwas weniger deppert geht es da zu, wo wirklich eine Art Hochkultur herrscht. Ich hab jahrelang Dauerkarten nicht nur auf Schalke gehabt, sondern auch für die Oper am Rhein in Düsseldorf. Und da kam es schonmal vor, dass die Spielpläne dazu führten, dass direkt nach dem Schlusspfiff auf Schalke der BMW gen Düsseldorf flog und man in „voller Montur“ in der Oper erschien. Das erzeugte Anfangs Stirnrunzeln, gesagt hat aber nie jemand etwas – und irgendwann hatten sich die Platzanweiser und die anderen Dauerkarten-Inhaber oben auf den billigsten Plätzen eh daran gewöhnt. Prinzipiell finde ich, hat die Oper sowieso viel gemeinsam mit dem modernen Fußball. Man sitzt nicht mehr im Freien, die Spielfläche wird immer künstlich beleuchtet, es gibt unterschiedliche Dresscodes, das Liedgut ist meist altbekannt, gesungen wird’s bloß von ein paar Leuten – und das nicht immer schön – und die, die da unten theatralisch dahinscheiden, stehen nachher immer ziemlich schnell wieder auf und haben gar nix. Und, besonders eklatant: auf höchstem Level findet man bei beiden keine brauchbare Bratwurst mehr.

Ein bisschen anders ist das im Ausland. 2004 zum Beispiel war ich in Lissabon, um vor der EM die neuen Stadien zu inspizieren, um bei der 100Jahr-Feier von Benfica dabei zu sein, und um eines der schönsten Fußballstadien der Welt zu besuchen, das Restelo des O.S. Belenenses, der viel mit Schalke gemein hat, nicht bloß die Farben, und von dessen Nordkurve aus man den sensationellsten Blick hat auf den Fluss, die „San Francisco“-Brücke, die riesige Jesus-Statue am anderen Ufer, das berühmte Seefahrerdenkmal, das Hieronymus-Kloster mit dem Grab von Vasco da Gama und natürlich den Rasenplatz mit der herrlichen blauen Laufbahn drumherum (welche die Herthaner später mehr schlecht als recht kopierten. Aber was versuchen die nicht zu kopieren?). Abends besuchte ich die Lissabonner Oper, das Sao Carlos, im Schalke-Tshirt und das erregte die Aufmerksamkeit einer wunderschönen Platzanweiserin (was mir nachher noch längere Diskussionen mit meiner ebenfalls glutäugigen Griechin einbrachte, die ich, wie ja bereits gesagt, 1997 geehelicht hatte), die sich als Fan von Sporting entpuppte. In der Pause zeigte sie uns die Räumlichkeiten des Opernhauses, darunter auch einen Festsaal, in dem bereits ein Bankett aufgebaut war für die Staatspräsidenten von Portugal und Italien, die ebenfalls die Vorstellung besuchten. Und zum Entsetzen der zahlreichen anwesenden Diener und Kellner, die auf die hohen Herren warteten, schloss mir die freundliche Sporting-Anhängerin die Türen auf und lud uns ein, die Köstlichkeiten doch mal noch vor den Präsidenten zu begutachten. Das endete dann fast in einem Tumult, aber es ging ja gut aus. Und Tumulte ist man in der Oper ja eh gewöhnt. Wenn auch eher auf der Bühne.

Auf den Straßen Deutschlands dagegen kann man schonmal unverschuldet in Tumulte geraten: Anfang der Neunziger half ich der Deutschen Bank für ein paar Monate dabei, die Software für ihren Aktienhandel zu optimieren, sodass die amerikanischen und japanischen Banken ganz blass werden sollten. Das war eine spannende Sache und mitunter ziemlich knifflig. Was mir gewöhnlich Spaß machte – außer das klappte nicht so, wie ich’s mir vorstelle. Dann werd‘ ich auch heute noch grummelig und leicht gereizt. Und so war das auch eines Abends, als ich aus den beiden Glitzertürmen in Frankfurt die HiTech-Lifte nach unten nahm, in meinem feinsten (und einzigen) Hugo Boss-Anzug und Aktenköfferchen in der Hand die von einen Bach durchflossene Lobby durchquerte und, noch immer über irgendeinen Compilerkram stinkig, hinaus auf den Vorplatz trat. Wo mich ein ungewohnter Lärm empfing.

Abgesondert wurde dieser Krawall von einer tobenden Menge junger Leute – also ungefähr genauso jung wie ich, eigentlich. Bloß anders angezogen. Die hielten Schilder in der Hand und brüllten mich an. Nur ein paar Polizisten, schon mit Helmen auf und Schlagstöcke zum Einsatz bereit, trennte die Menge von mir und beschützte mich. Während ich noch verblüfft dastand – schließlich kannte ich das mit der Polizei normalerweise anders, erst recht in Frankfurt, wo in den Achtzigern gerne kleine Panzer als Wasserwerfer am Waldstadion unterwegs waren und Gästefans zum Baden überreden wollten – stürzte einer der Jungspunde „Kapitalist!“ schreiend an zwei Ordnungshütern vorbei auf mich zu und wedelte mit seinem Schild vor meinem Gesicht herum. „Deutsche Bank Mörder!“ oder sowas stand da drauf.

Mir stank der ganze Tag sowieso schon, und gewöhnlich bin ich das zurückhaltenste Wesen, das man sich vorstellen kann – aber das war mir dann zuviel. „Was soll das? Was is los mit dir?!“ brüllte ich den einen Kopf kleineren Jungen an. „Ich war letzte Woche mit Schalke in Rostock, und jetzt kommst du und willst mir mit sonem beschissenen durchweichten Pappschild Angst machen? Hast du sie noch alle?!“
Das verblüffte nun den Demonstranten. Und insbesondere verblüffte es auch die beiden Polizisten, die eben noch den Jungen zurück halten wollten und nun aber sichtlich zu überlegen begannen, ob sie die Situation vielleicht neu einschätzen müssten.

Aber ich war eh grad in Fahrt. „An deinem Scheiß-Schild ist ja noch nicht mal ein Stock dran! Mensch, und ihr hattet hier sogar einen Ministerpräsidenten, der kannte sich bestens mit Dachlatten aus! Reiß dich mal zusammen, Junge!“

Die Menge der Demonstranten hatte aufgehört zu lärmen und schaute sich das Schauspiel an. Die beiden Polizisten waren nun vollständig mir zugewandt, und einer sagte mit fester Stimme „Ich bitte Sie, jetzt einfach weiter zu gehen. Ja? Bitte?“

„Mein“ Demonstrant war inzwischen völlig in Schockstarre verfallen, und ich kniff die Lippen zusammen und wandte mich zum gehen, als in die Stille hinein plötzlich einer aus der Demonstrantenmenge rief: „Scheiß Schalke!“. Der Typ hatte eine Eintracht-Batschkappe auf, grinste mich über die Polizeikette hinweg an und hob den Daumen in die Luft. Ich glaube, der war von seiner Freundin da hingeschleppt worden und froh, endlich einen gefunden zu haben, mit dem er irgendwas gemein hat – selbst wenn der auf der anderen Seite der Uniformierten stand. Und irgendwie fand ich das dann auch lustig. Da war mir der Compiler dann egal, und am liebsten wär ich mit dem gleich mal irgendwo zum Fußball gefahren. Zum Bieberer Berg in Offenbach zum Beispiel, das wär bestimmt ein klasse Abend geworden – in den richtigen Klamotten.

„1904 Geschichten“.
Die Bitte geht an Alle: wenn ihr etwas habt aus über 100 königsblauen Jahren, etwas Wahres und/oder Interessantes über Schalke, das ihr teilen wollt, Erlebnisse die erinnernswert sind oder ganz einfach Schilderungen, wie es war, wie man sich Eintrittskarten besorgte, wo in der Glückaufkampfbahn, dem Parkstadion oder der Arena man „daheim“ war, wie man dahin kam und wie es da zuging, oder was auch immer vielleicht jemand, der Schalke nur vom Fernsehen oder aus der Zeitung kennt, nie oder niemals wirklich wissen kann – aber vielleicht sollte – schickt mir (matthias.berghoefer[at]web.de) einfach eure Texte, Dreizeiler oder halbe Romane und egal wie’s mit Rechtschreibung aussieht. Klar erkennbar muss sein, ob es sich um eine wahre Geschichte handelt oder um einen Prosatext, also einen konstruierten, erfundenen, der etwas Bestimmtes ausdrücken will in Bezug auf den FC Schalke 04.
Wichtig ist natürlich auch, dass ihr kein Problem damit habt, dass euer Text hier, und vielleicht auch irgendwann mal in einem Buch, veröffentlicht wird – natürlich unter eurem Namen, oder einem „Pseudonym“ falls euch das aus irgendeinem Grund lieber ist.
1904 Geschichten sind eine Menge Holz. Ich bin mal gespannt.

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