Bernd ist in Hessen daheim, halb Rheinländer, halb Amerikaner, hat die 30 schon knapp hinter sich, verdient seine Brötchen mit Sportvermarktung und ist Schalker, seit ihm der Oppa von seiner Jugend in Gelsenkirchen erzählt hat.
Gehste einmal auf die Mitgliederversammlung beim Geilsten Club vonne ganze Welt, passieren dir komische Sachen, da triffste sogar Superman und Batman. In einer Person.
Obwohl ich schon seit meiner Grundschulzeit Schalker bin kam es erst 2002 dazu, dass ich auch Schalke-Mitglied wurde. Die Mitgliederzahl lag damals irgendwo knapp über 30.000 und es war noch nicht die Rede von einer wichtigen Einnahmequelle – ich kann mich erst zur Arena-Eröffnung erinnern, dass die Mitgliedschaft überhaupt ein großes Thema wurde, und dann auch nur weil sie für Nicht-Dauerkarten-Inhaber plötzlich die beste Chance auf Tageskarten versprach. Vorher war Mitglied sein – jedenfalls aus meiner Sicht aus 50km Entfernung – etwas für Leute, die in Gelsenkirchen wohnten und vermutlich hin und wieder auf Schalke die Krafträume aufsuchten, um mal ne Runde neben unseren Spielern zu pumpen. Hätte man mir so erzählen können, hätte ich geglaubt. Erst zu meinem 15. Geburtstag gab es meinen ersten labbrigen Plastikausweis (damals noch wirklich dünn laminierte Folie), der mich zu einem richtigen amtlich registrierten Schalker machte.
So oder so hätte ich es mir also nicht nehmen lassen, im Sommer 2003 auf meine erste JHV zu gehen. Auch diese Veranstaltung hatte noch nichts von ihrem Event-Charakter gewonnen. Es herrschte in meiner Erinnerung ein Konsens, dass die JHV „früher“ (damals vor etwa zehn Jahren) noch interessant gewesen sei, es aber insgesamt doch gut sei, dass man das Ganze eher ruhiger mache. Außerdem war mir von Anfang an sehr präsent, dass es auf der JHV absolut keinen Alkohol gab – da ich damals keine ausgeprägte Affinität dafür hatte, gehe ich davon aus, dass das fehlende Vollbier wohl insgesamt ein großes Diskussionsthema war.
Ziemlich überraschenderweise kam gegen Ende der erfolglosen Saison 2002/03 noch ein Faktor hinzu, der meinen JHV-Besuch plötzlich wesentlich interessanter werden ließ: Der Vater meiner besten Schulfreundin kandidierte für den Aufsichtsrat. Somit war klar, dass ich 1) einen Fahrer zur JHV und 2) eine Begleitung für den Abend haben würde. Standesgemäß stattete ich sie mit einem geeigneten Outfit (77/78er-erima-Trikot, gekauft bei eBay für meinen Trikotschrank) aus und zog selbst mein feinstes aktuelles Heimtrikot an. Auf nach GE!
Der Abend verlief an sich relativ ruhig. Ich wurde irgendwann von einer Userin aus dem Schalke-Forum erkannt, was im Nachhinein recht verwunderlich ist – es gab ja noch kein Facebook und so wird sie von mir kein Foto vor Augen gehabt haben. Ich meine, sie hätte mich auf gut Glück angesprochen, weil ich zu einer von mir geschriebenen Beschreibung von mir selbst passte – damals wurde wohl doch noch mehr gelesen als gleich eine Meinung rausgehauen. Ansonsten nahm das übliche JHV-Prozedere seinen Lauf, der Vater meiner besten Schulfreundin hielt eine gute Rede („Sauerland ist Schalke-Land!“, das kam selbst mir mit meinen 15 populistisch vor, war aber genau richtig für den Anlass), und am Ende der Abstimmung war er dann tatsächlich auch gewählt worden.
Nun war ebendieser neu gewählte Aufsichtsrat für meine beste Schulfreundin und mich auch gleichzeitig wie schon geschildert der Fahrer nach Hause. Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, wie ein Abend weiter verläuft, wenn jemand gerade zum Aufsichtsrat gewählt worden ist. Im Jahr 2003 verlief das so: Erst wurde ein gemeinsames Foto auf der Bühne gemacht, und dann kam der Vater meiner besten Schulfreundin zu uns rüber und erklärte: „Wir gehen jetzt gleich noch ein bisschen hoch.“ „Ein bisschen hoch“ hieß in dem Fall: In einer längeren Kolonne ab in die La Ola(!), dann eine Treppe hoch, dann um gefühlt 32 Ecken herum, dann irgendwann in einen relativ kleinen Raum, und dann der Hinweis „Das ist der Blaue Salon“. Nun hatte ich zwar das angelesene Wissen, dass es im Parkstadion einen Raum mit ebendiesem Namen gegeben hatte, mir war aber nicht klar, dass man offensichtlich irgendwo in der Arena einen Raum genau so benannt hatte. Hier war ein kleines Buffet aufgebaut und es gab selbstverständlich auch eine Bar. Anwesend waren ungefähr alle Anzugträger von Schalke, die ich irgendwo mal gesehen hatte, und recht schnell kamen wir zwei uns in unseren Trikots etwas albern vor. Meine beste Schulfreundin und ich wurden natürlich überall vorgestellt, viel Händeschütteln und so, aber irgendwann packte mich dann doch die Lust, mir etwas zu essen und zu trinken zu holen.
Keine Minute später stand ich direkt neben Rudi Assauer.
Mit dem Glauben habe ich es noch nie so gehabt. Irgendwie wurde das bei mir zuhause nie so vorgelebt oder erklärt. In meiner Grundschulzeit fand ich das Singen spaßig und den halbnackten Mann über der Tür gruselig, ohne die beiden Phänomene als „Gottesdienst“ und „Kruzifix“ einordnen zu können. Einen Glauben aber hatte ich selbst aufgeschnappt und war mit dem als fester Überzeugung aufgewachsen: Rudi Assauer ist der Mann, der Schalke 04 aus der Gosse gerettet und zum UEFA-Cup geführt hat. Rudi Assauer ist der Mann, der für diese Arena verantwortlich ist und dafür, dass wir bald Deutscher Meister werden. Rudi Assauer ist stärker als Superman und barmherziger als Batman. Und genau dieser Rudi Assauer stand nun neben mir. Sollte ich die Gelegenheit echt verstreichen lassen? Würde ich bereuen, oder? Also, allen Mut zusammengenommen, einmal tief durchgeatmet, zittrige Hände stabilisiert, und irgendwie habe ich ihn dann angesprochen:
„Herr Assauer, ich wollte Ihnen nur einmal Danke sagen…dass Sie unseren Verein gerettet haben.“
Rückblickend betrachtet: Kann man schlechter machen! Jedenfalls wenn man jemanden „Prominentes“ schon anlabern muss. Höflich und auffen Punkt. Bisschen unterwürfig, aber wenne 15 bist und gerade unverhofft innem Raum voller Anzugträger stehst passt das schon. Im Nachhinein bemerkenswert mutig von mir, wenn ich mal so an mein Verhalten in anderen Lebenslagen zu der Zeit denke. Ich hab‘ sicherlich in dem Jahr kein Mädel so dezidiert angelabert wie an dem Tag Rudi Assauer.
„Ach, danke, aber das habe ich doch nicht allein gemacht!“
Mentale Sofortreaktion RUDI ASSAUER HÄLT MICH NICHT FÜR NEN SCHWACHKOPP WIE GEIL IST DAS DENN BITTE fqeuoiifeqfjioeqoqoiocdamlxxy….. ein paar Synapsen feuerten dann erst mal durcheinander. Aber ich hatte registriert, dass er das insgesamt positiv zur Kenntnis nahm, was ich da erzählt hatte. Ich war nicht rausgeflogen. Nicht mal komisch geguckt hatte er. Weltklasse-Ergebnis.
Es stand noch jemand Weiteres dabei, den er im Gegensatz zu mir auch irgendwie zu kennen schien. Oder der jedenfalls erwachsen war. So erzählte der Rudi drauf los. Es war ja nun eigentlich nicht mein Ziel gewesen in großem Maße Rudi Assauers Zeit in Anspruch zu nehmen. Aber wegtreten kannste ja auch nicht, wenn der große Mann erzählt, oder? Nach meiner Erinnerung ging es um die aktuelle Situation und um ne ganze Menge „dies und das“, aber eine Geschichte blieb mir nachhaltig in Erinnerung: Rudi schilderte, wie der Abgang von Nico van Kerckhoven abgelaufen sei. Offensichtlich hatte Rudi mit ihm mündlich vereinbart, dass sein Vertrag verlängert werden würde. Aber dann hätte man noch mal auf die Zahlen geguckt und festgestellt: Ja scheiße, das passt irgendwie nicht! Das Problem hätte der Rudi aber gelöst. Und der Nico sei ja auch ein feiner Kerl. Also würde der Nico jetzt erstmal nach Mönchengladbach gehen, und die Differenz im Gehalt, die würde ihm der Rudi persönlich zahlen.
Dieses Geheimnis habe ich dann viele, viele Jahre für mich behalten. Aber schockiert hat’s mich. Irgendwie konnte ich schon damals einordnen, dass das nicht die richtige Art sein konnte, um einen Bundesligisten zu managen. Wie konnte denn Schalke den Überblick darüber verlieren, wieviel Geld zur Verfügung stand? Ich fand’s unverantwortlich. Ich witterte auch Gefahr im Verzug, denn auf dem Weg hoch hatte ich gesehen, wie Jupp Schnusenberg Benno Weber eingeladen hatte mitzukommen. Benno Weber! DEN FEIND! Muss man sich mal vorstellen! Und wenn der Rudi in dessen Hörweite sowas erzählt hätte, ach du Scheiße ey…
Über diese brandheißen Interna zu schweigen habe ich damals als heilige Pflicht empfunden, heute würde ich das vermutlich etwas lockerer sehen. Es hat jedenfalls geholfen: Die Anekdote hat es nie in die Bild geschafft und wurde meins Wissens auch nie woanders erzählt. Nico van Kerckhovens Subvention lief dann wohl nach einem Jahr aus, jedenfalls ist er dann nach Belgien zurückgewechselt. Und Rudi Assauer blieb auch dank seiner unkomplizierten Problemlösungsansätze noch ein paar Jahre Manager auf Schalke. Und für mich bleibt er auch weiterhin der Retter von Schalke, das ist für immer.
Es gibt aber ein Detail an der ganzen Sache, das ich nicht ausblenden kann und nicht unerwähnt lassen will, weil’s mich wurmt. Irgendwann bin ich auf die Idee gekommen nochmal zu googlen, wie das mit dem van-Kerckhoven-Transfer war. Ich hab‘ dann gleich mehrfach mit unterschiedlichen Begriffen gegoogelt, weil mir Google erstmal Fehler ausgespuckt hat. Inzwischen scheint die Quellenlage aber so eindeutig, dass ich’s nicht mehr verkennen kann: Nico van Kerckhoven ist erst 2004 gewechselt. Das erklärt im Übrigen auch meinen hartnäckigen Hintergedanken, nämlich dass ich mich daran erinnern kann, dass der Blaue Salon erst deutlich nach der Arena-Eröffnung hinzukam, und das es diesen Raum in der zweiten Saison gar nicht gab. Kriegt man das irgendwie zusammen? Keine Ahnung. Der andere Ohrenzeuge hat sich nie bei mir vorgestellt und ich wüsste nicht, wer die Geschichte noch bestätigen könnte. Vermutlich werde ich sie nie beweisen können. Aber so ist das eben mit den 1904 Geschichten: Irgendwie erlebt jeder sein eigenes Schalke.