Nachspielzeit

Andreas Pyrchalla schrieb einst einen launigen Brief an einen Fußballclub, und darf deshalb seit nunmehr über 20 Jahren die Königsblaue Schar als “Erwin Koslowski” mit seinem “Nordkurwenkommentar” versorgen.

Das letzte, das entscheidende Saisonspiel 1998 hat ein absonderliches Nachspiel, und beide Male ist Marc Wilmots mit dabei.


34. Spieltag, 9. Mai 1998

FC Schalke 04 – Arminia Bielefeld 2:1 (1:1)
Schalke: Lehmann – Müller (66. Pereira), – de Kock, Linke – Latal (54. Max), van Hoogdalem, Eigenrauch, Büskens – Wilmots, Kliouev – Eijkelkamp (74. Anderbrügge),

Tore: 0:1 Gerber (14.), 1:1 van Hoogdalem (44./Foulelfmeter), 2:1 van Hoogdalem (78./Foulelfmeter) – Gelb-Rot: Wilmots (29.). Schiedsrichter: Dr. Markus Merk.

Zuschauer: 62.000 (ausverkauft)

Es war der letzte Spieltag der Saison nach unserem UEFA-Pokalsieg. Es war die Saison, in der Aufsteiger Kaiserslautern Meister wurde und Mitaufsteiger Wolfsburg den Klassenerhalt schaffte. Möchengladbach rettete sich am letzten Spieltag und Lüdenscheid wurde mit Trainer Nevio Scala sensationeller Zehnter.

Für den FC Schalke hieß es am letzten Spieltag: mit nur zwei Punkten aus den letzten sechs vorausgegangenen Spielen musste unbedingt ein Sieg im letzten Heimspiel gegen die als Tabellenletzter angereisten und bereits abgestiegenen Bielefelder her, sonst wäre der vor Wochen schon sicher geglaubte Platz 5 futsch. Kein internationaler Fußball im nächsten Jahr? Wo wir uns doch gerade daran gewöhnt hatten! Größte Konkurrenten waren übrigens Werder Bremen und… Hansa Rostock.

Das Spiel gegen Arminia begann für uns, naja, wie so häufig Spiele für uns beginnen: 0:1 nach der ersten Viertelstunde und nach der zweiten Viertelstunde flog auch noch unser aller Kampfschwein, Marc Wilmots, vom Platz. Gelb-Rot, gezogen von Dr. Markus Merk, der uns drei Jahre später noch mal besonders in Erinnerung bleiben sollte. Aber zurück zum Spiel: Eine Stunde zu Zehnt und du musst unbedingt gewinnen.

Kurz vor dem Halbzeitpfiff: Foul an Latal. Elfmeter. Anderbrügge war nicht auf dem Platz, so schoss überraschend Marco van Hoogdalem den Elfer. Drin. 1:1. Halbzeit. Gleichzeitig netzte Rostock aber zum 2:1 ein. Ein Punkt wäre für uns zu wenig. Ingo Anderbrügge kommt eine Viertelstunde vor Ende, holt kurze Zeit später den zweiten Elfmeter raus. Ingo, vielleicht aus Aberglauben, lässt wieder Marco van Hoogdalem den Vortritt und boms! Drin das Ding, 2:1. Das übliche Zittern bis zum Ende, aber der Sack ist zu. Rostock gewinnt 4:2 gegen Karlsruhe, aber Platz 6 nutzt nur zum UI-Cup. Bremen verliert in Stuttgart 0:1 und wird Siebter. Völlig egal: Der S04 ist wieder im UEFA-Cup!!! Zum dritten Mal hintereinander.

Zu dieser schönen Zeit hatte ich neben meinen Dauerkarten im Block L wunderbare Karten mit Zugang zum S04-Clubheim. Das Clubheim befand sich damals da, wo heute der Kartenvorverkauf ist, also direkt gegenüber vom großen Fanshop an der Geschäftsstelle. Super Geschichte. Natürlich haben wir regelmäßig nach dem Spiel nicht nur die 90 Minuten Paroli laufen lassen und schön die Sportschau auf Fernsehern gesehen, sondern selbstverständlich auch das ein oder andere Bierchen getrunken (damals übrigens Warsteiner). Der Spielerraum für Frauen, Kinder, Verwandte und Bekannte, war seinerzeit direkt über dem Clubheim und Wilmots, Müller, Anderbrügge und Büskens ließen sich immer mal wieder nach dem Spiel dort auf ein Pläuschken blicken. Eine unbestrittene Sahnezeit war das. Mein Freund Dieter aus dem Sauerland nahm sich extra für jedes Spiel ein Hotelzimmer im Verkehrshof, wo wir ihn dann abends immer noch hingebracht haben. Manchmal musste man ihn auch direkt am Eingang absetzen, sonst hätte er das Hotel wohl nicht gefunden.

Jedenfalls kam zu dem oben erwähnten Spiel und der guten Laune an diesem besonderen Tage nun auch dazu, dass ein ehemaliger Lehrer von mir aus Bottrop dort auftauchte. Der kannte Hinz und Kunz, war mal im Stadtrat von Gelsenkirchen. Es schien vorher der letzte Schultag oder irgendeine Feier gewesen zu sein, er trug einen einteiligen weißen Overall mit den Unterschriften seiner Schüler. Der Lehrer, naja, sagen wir mal, trank gerne in höchster Intensität und hatte dann auch den leichten Hang zu übermäßiger Lautstärke. Bollerig war er. Ein netter Kerl, ich hatte früher auch immer `ne Drei bekommen sobald ich mich als Schalke-Fan zu erkennen gab, aber bollerig, verdammt bollerig. Er fragte, ob wir ihn nachher mit nach Bottrop nehmen könnten, er müsste noch auf eine Feier. Meine damalige Freundin war total begeistert, aber ich hab` natürlich gesagt: „Sicher!“

Als wir dann irgendwann beschlossen, so langsam mal abzudüsen, hatte er, kein Witz, den Reißverschluss von seinem Overall schon bis zum Bauchnabel (nix drunter!!!) runtergezogen und tanzte vor einigen irritierten Gästen durch das kleine Clubheim. Kein schöner Anblick. Es wurde aber noch besser! Wir gingen raus, vorweg. Er hinter uns her. Von irgendwo dröhnte Musik, es dudelte laut Wolfgang Petry. Mein ehemaliger Lehrer rannte auf mich, schnappte mich, nahm meinen Kopf in seinen Schwitzkisten und brüllte „WIR SIND DAS RUHRGEBIET!!!“ und zog mich ein paar Meter mit. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, so zog der mich. Ich kam gerade wieder einigermaßen auf die Füße und blickte nach vorne. Und wer stand auf einmal vor uns? Marc Wilmots!

Das Kampfschwein, entscheidender Mann im UEFA-Pokalfinale, Hauptdarsteller vieler Schlachten, die Reinkarnation des Guten, kurzum: mein absoluter Held zu der Zeit. In königsblauen Trainingsanzug und auf der Schulter seine Trainingstasche. Er blieb einen halben Meter vor uns stehen und schaute uns einige Sekunden ziemlich entgeistert an.

Das Einzige, das ich rausbekam, war:
„Ich kenn den nicht!“ und zeigte auf meinen Lehrer.

Marc Wilmots lachte, klopfte mir auf die Schulter und sagte:
„Weißt du was? Ich kenn den auch nicht!“ und ging weiter.


„1904 Geschichten“.
Die Bitte geht an Alle: wenn ihr etwas habt aus über 100 königsblauen Jahren, etwas Wahres und/oder Interessantes über Schalke, das ihr teilen wollt, Erlebnisse die erinnernswert sind oder ganz einfach Schilderungen, wie es war, wie man sich Eintrittskarten besorgte, wo in der Glückaufkampfbahn, dem Parkstadion oder der Arena man „daheim“ war, wie man dahin kam und wie es da zuging, oder was auch immer vielleicht jemand, der Schalke nur vom Fernsehen oder aus der Zeitung kennt, nie oder niemals wirklich wissen kann – aber vielleicht sollte – schickt mir (matthias.berghoefer[at]web.de) einfach eure Texte, Dreizeiler oder halbe Romane und egal wie’s mit Rechtschreibung aussieht. Klar erkennbar muss sein, ob es sich um eine wahre Geschichte handelt oder um einen Prosatext, also einen konstruierten, erfundenen, der etwas Bestimmtes ausdrücken will in Bezug auf den FC Schalke 04.
Wichtig ist natürlich auch, dass ihr kein Problem damit habt, dass euer Text hier, und vielleicht auch irgendwann mal in einem Buch, veröffentlicht wird – natürlich unter eurem Namen, oder einem „Pseudonym“ falls euch das aus irgendeinem Grund lieber ist.
1904 Geschichten sind eine Menge Holz. Ich bin mal gespannt.

Eine Antwort zu “Nachspielzeit

  1. Einfach herrlich!

    Bei dem Spiel war ich übrigens auch. Kann mich noch gut an die Rufe: „Merk, Du %&*#$§“ erinnern 😉

    Glückauf, Enatz

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