Mit der B im Spö

Matthias Berghöfer hat vor Jahrzehnten lange nur Schalker Auswärtsspiele besucht, weil er glaubte, er wäre an Heimniederlagen im Parkstadion schuld. Stimmte aber gar nicht, ehrlich!

Genau vor zwölf Jahren trat die Schalker B-Jugend in Rheydt an. Musste man natürlich dabei gewesen sein.


Sonntag früh, und wir reiben uns den Schlaf aus den Augen, der wegen der gestrigen Auswärts-Tour zum Sieg bei den Münchner Bayern ziemlich kurz geriet. Macht aber nix: der schweizer Espresso-Automat sorgt in Windeseile für Aufmerksamkeit, zuerst durch ohrenbetäubendes Mahlen der Kaffeebohnen, dann, versöhnlicher, durch den extrem leckeren, italienischen Espresso, der sich in geschäumter Milch ausbreitet und zusammen mit ihr die Wärme und das Leben zurückbringt in schwächelnde Schalker.

Draussen ist es kühl und noch nass von der Nacht, aber die Sonne schaut immer mal durch, lockt uns hinaus – „ausnahmsweise“ mal wieder zu einem Fußballspiel. Wir wecken den BMW, versichern ihm, dass es heute keine 1300km werden, und nach einer viertel Stunde Fahrt quer durch ein noch ausgestorbenes Mönchengladbach rollt das Geschoss zufrieden aus unter hohen Bäumen auf dem kleinen, sandigen Parkplatz vor dem Stadion in Rheydt.

Ein paar Kilometer weiter südlich werden in ein paar Stunden die Profis der echten Borussia ihr Bundesligaspiel abhalten, sich vor 53.000 im nagelneuen „BorussiaPark“ mit den Betzebuben messen – aber das wahre Zentrum des Fussballsports befindet sich heute hier, am „Spö“, wie das Stadion der Rheydter Spielvereinigung am Jahnplatz genannt wird. Neben dem kleinen Tor steht riesengroß der Mannschaftsbus des FC Schalke 04, mit dem die königsblaue B-Jugend zum Auswärtsspiel in der Regionalliga angereist ist.

Eine interessante Anlage ist das hier. Auf der anderen Seite des Parkplatzes liegt ein Aschenplatz für Bolzwillige, da links das ziemlich große, relativ moderne Grenzlandstadion, in dem die Borussia ihre Jugend- und bis letztes Jahr noch ihre Amateur-Spiele durchführte, mit Aschenbahn und Flutlicht und allem drum und dran. Vor Jahrzehnten war’s mal das größte Stadion überhaupt, weil es gleich zwei Fußballplätze enthielt… Und hier, direkt vor unserer Nase also das RSV-Stadion, 1922 erbaut auf dem Gelände einer ehemaligen Ringofen-Ziegelei, mit einer Tribüne aus passend rotem Stein.

Wir zahlen jeweils 3€ Eintritt und treten durchs niedrige Eisentor ein, finden uns links von der Sitzplatztribüne auf Höhe des 16ers im Stadion. Sieht fast aus wie im Paul-Janes-Stadion der Fortunen in Düsseldorf: Rings um den sehr schönen Rasenplatz zieht sich ein Gitter, etwa so hoch wie die Torlatte. Rundum liegen Stehplatzränge, in den Ecken voneinander getrennt durch hohe Zäune, in denen aber die Tore offen stehen – dazu manches Gitter und Geländer. Sieht abenteuerlich aus, aber lange nicht so „schlimm“ wie im Wuppertaler „Stadion am Zoo“.

In den Ecken stehen dünne, orangefarbene Flutlichtmasten, die aussehen, als seien sie in einem früheren Leben mal Baukräne gewesen. Links hinterm Tor zieht sich der Stehblock 35 Reihen hinauf und endet an einem hohen Zaun, der das Stadion abtrennt vom dort oben gelegenen Platz, auf dem gerade eine Feldhockey-Partie der 2.Bundesliga stattfindet. Die Geräusche des Spiels, der Zuschauer und bisweilen aufbrausender Jubel flattern gedämpft zu uns herab. Die Gegengerade weist nur 25 Reihen auf, manche davon schon von Moos und allerlei Kraut in Besitz genommen, und rechts sind es gar nur 15 Reihen hinter’m Tor bis zu einer roten Ziegelmauer. Dahinter liegt die Strasse, eine hübsche Allee, und von deren entfernter Seite lugen Spitzgiebel-Häuser in’s Stadion hinein. Idyllisch.

So alt und schwach wie wir sind, müssen wir natürlich sitzen, und so erklettern wir neben uns die 12-reihige, überdachte Tribüne, die sehr komfortable lange und breite Bänke bietet, fast sauber noch dazu, und eine Beinfreiheit nach vorne, wie ich sie seit Jahren in keinem Stadion mehr erlebt habe. Falls überhaupt jemals. Die Lufthansa jedenfalls würde spielend zwei Sitzreihen hier unterbringen.

Etwa 150 Zuschauer sind gekommen, um das Gemetzel mitzuerleben, das die Jung-Knappen an der B-Jugend des Rheydter SV anrichten werden. Gegen den BVB, die vom kleinen Rummenigge geführte wohl beste Mannschaft der Liga, verlor der RSV letztens mit 2:13. Die Schalker nur mit 0:3. Nach Adam Riese müsste da also ein, moment,…, 1:4 rausspringen, aber Adam Riese hatte keinen blassen Schimmer von Fußball, wir müssen uns also überraschen lassen.

Es sind erstaunlich viele Kinder da, manche so klein, dass sie in ihren schwarzen Bomberjacken des Vereins kaum zu sehen sind. Trotzdem steckt Energie für zehn in diesen Mini-Menschen, ständig springen sie von der Tribüne hinab zu den darunter liegenden Stehplatzreihen, rennen hin und her, brabbeln, bolzen den mitgebrachten Ball in die Zäune.

Es ist kurz vor 11 Uhr, und durch den vollkommen geschlossenen Spielertunnel, der vor etwaigen Wurfgeschossen schützt, betreten die Blau-Weißen Schalker das Feld der Träume. Zusammen mit dem gewagt in Neon-Violett gekleideten Schiedsrichter-Trio müssen sie ein paar Minuten warten auf den RSV, der schließlich in Grau-Schwarz erscheint.

Die alte, schwarze Anzeigentafel vor dem Hockeyplatz zeigt wohl seit Jahrzenten schon „12 Uhr“, und wird auch heute keine Tore melden für den „RSV“ oder die „Gäste“. Für sie bleibt’s ewig beim Unentschieden – nicht mal beim 0:0, denn Ziffern fehlen völlig.

Für uns sieht’s aber anders aus. Vom Anstoß weg läuft der Ball durch die Königsblauen Reihen hinüber zum wieselflinken Jari Ecker, der flankt weit an den langen Pfosten und Mittelstürmer Markus Schröter verwandelt zum 0:1. Keine Minute gespielt, da hätte die Anzeigentafel schon einen Sekundenzeiger gebraucht, um da mitzuhalten. Links unter uns steht im Zaun das Kabuff der RSV-Trainerbank, und da springt jemand ärgerlich hin und her, während der Stab des S04 drüben an der Mittellinie im wahrsten Sinne des Wortes „aus dem Häuschen“ ist. Das fängt ja gut an.

Und so geht es weiter. Rheydt ist völlig chancenlos. Die Bälle pfeifen dem nummernlosen Torwart dermaßen um die Ohren, dass man um sein Wohl fürchten muss, aber es dauert bis zur 15.Minute, als wieder Ecker drei, vier Gegner austanzt, die Torlinie entlang rennt, den Keeper aussteigen lässt und dann scharf auf „Dimi“ Trasias legt, der aus kürzester Distanz gar nicht anders kann, als zum 0:2 zu verwandeln.

Ecker zaubert auch in der Folgezeit, sorgt für mehrere exzellente Einschussmöglichkeiten seiner Mitspieler, hat auch selbst zwei davon, aber das Zielwasser fehlt und der Heim-Keeper leistet gute Arbeit. Erst drei Minuten vor dem Halbzeitpfiff kommt der RSV endlich mal nach vorne: aus 4 Metern kann ein Unseliger in Grau einen feinen Kopfball absetzen, der fliegt in den Winkel und wird dort – tja, nicht nur „abgewehrt“, sondern sogar „gefangen“ vom Schalker Torwart, Nurullah Can. Stimmt, der spielt ja auch mit. War bisher nicht aufgefallen.

Jetzt ist Halbzeit, Hurra! Bratwurst-Time! Wir haben’s auch bitter nötig, mangels Frühstück, aber wir werden enttäuscht und überrascht gleichermaßen. Es gibt keine Bratwurst, aber dafür mitten in der Tribüne eine wunderbare Stadiongaststätte, durch alte, verglaste Schwingtüren geht es hindurch in den hölzernen Raum, der so sehr nach Dorfkneipe riecht, wie man es sich nur wünschen kann. Rechts sogar ein Ballsaal, vielleicht 30 Quadratmeter groß und mit Discolampen, und hier die Kneipe mit rustikalen Tischen. Man hängt Mantel und Hut ordentlich an die Garderobe und steht in 50er-Jahre Beleuchtung mit der Menge an der Theke.

Erstaunlicherweise wird überall Kaffee statt Bier getrunken. Für uns gibt’s Frikadelle, kalt, mit zwei Scheibchen Baguette, warm. 1.60€ kostet das Prachtstück, schmeckt aber nach weniger. Na ja.

Während die Europameisterin wieder auf der Tribüne Platz nimmt, erkunde ich das Stadionrund, denn da hinten hinter dem Tor, das Can so prächtig hütete, da steht ein merkwürdiger, dick gemauerter Steinblock, der Sockel eines Denkmals, und als ich näher komme, da erinnere ich mich, tatsächlich mal hierüber gelesen zu haben: Wohl einmalig in deutschen Stadien (wenn nicht darüber hinaus) thront hier mitten im Stehblock ein Ehrenmal für die Gefallenen des 1.Weltkrieges. Auf Tafeln finden sich die Namen der nicht heimgekehrten RSV-Sportler, hier und da fehlen die Buchstaben, ungepflegt, vergessen steht es da.

Und da ist noch das auf solchen Mahnmalen übliche eiserne Kreuz, und mir fällt ein, dass hier in Rheydt der „Eiserne Fritz“ den Verein als Spielertrainer in die höchste Spielklasse führte – die Oberliga. 1950 war das, und Fritz Pliska war’s, der vorher als Spieler mit Schalke 04 Westdeutscher Meister geworden war. Damals spielte man hier vor 30.000, auch gegen Schalke, war kurzzeitig erfolgreicher als der Rivale Borussia Mönchengladbach. Ich erinnere mich, dass der Kölner Hennes Weisweiler von Pliska übernahm, und dass beide – immer noch vor meiner Geburt! – bei Sepp Herberger später erst Trainer wurden, zusammen mit Paul Janes, dem Halbgott aus Düsseldorf. Wo hab ich das bloß alles gelesen? Ich stehe da an diesem Ehrenmal und reise durch die Zeit – Pliska bringt auch Gladbach in die Oberliga, wird wieder von Weisweiler abgelöst, ist Trainer bei Bayer Leverkusen und später – auweia – bei Rot Weiss Essen. Ob er wohl noch lebt?

Ich werde aus den Träumen gerissen vom Rheydter Torwart, der die Pforte im Zaun öffnet und einen Ball zurück auf den Platz holt, der offenbar ziemlich dicht neben mir eingeschlagen sein muss. Nix gemerkt – die zweite Hälfte läuft längst, dort drüben seh ich meine Holde auf der Tribüne sitzen und den Kopf schütteln über ihren Träumer, der da so einsam im Block steht.

Drüben auf der Gegengerade wandelt ein weiterer Wanderer, führt einen Dackel spazieren. Ich gehe hinüber, stelle dabei fest, dass hier hinten noch ein weiterer Aschenplatz liegt, und frage, wie lange das Spiel schon läuft – „hat gerade wieder angefangen“, meint er, und „Zwei-Null noch“. Wir stehen da, und die Schalker vergeben innerhalb von fünf Minuten sechs 100-prozentige. Unglaublich.

Mein Nachbar hat offenbar meine Reaktionen aufs Versieben bemerkt und meint „Ja, das müssen die üben – sind sie auch Schalker? Ich nämlich auch – schon seit Oberliga-Zeiten, da hab ich die hier nämlich noch gesehen!“. Und so beginnt die zweite Zeitreise, und der nette Herr erzählt von früher und von neulich und von heute, erzählt von seinen Stapeln von „Reviersport“ zuhause, deren neuer Zentrale in Essen, den Freikarten, seinem Kumpel, dem Schalker Busfahrer (aber heute wär’s ein anderer, schade), zieht ein Foto aus der Tasche, das seinen jungen Dackel ausgebreitet auf einer Schalke-Decke zeigt und meint: „Das war bei Reviersport auf’m Titelblatt!“. Phantastisch.

Zwischendurch erzielt Trasias das hochverdiente 0:3, wackelt das Rheydter Tor bei mehreren Lattentreffern, und schließlich fällt nach einem solchen als Abstauber auch das 0:4 – das dritte Tor von Dimi Trasias. Inzwischen ist es total sonnig geworden, und einfach wunderbar idyllisch. Unter den Füssen knirscht der Kies, als wir beide wie zwei alte Bekannte langsam die Stadionrunde vollenden, während drüben am jetzt entfernten Tor die Schalker Kunstschüsse üben und es tatsächlich einmal fertig bringen, mit einem Schuss beide Pfosten zu treffen.

Erst in der letzten Minute, als ich mich von den im Gladbacher Exil lebenden zwei- und vierbeinigen Schalkern verabschiede, da findet der Ball zum fünften Mal den Weg ins Tor, wieder durch Trasias, aber diesmal wird Abseits gegeben. Zweifelhaft, aber „0:4“ ist doch immer wieder ein schönes Ergebnis.

Die letzte Szene des Spiels hat der inzwischen zu Höchstform aufgelaufene Gästekeeper. Der Ball ist nach einer Abwehr oben auf dem Tornetz liegen geblieben, er haut ihn von innen herunter und bleibt mit dem Handschuh im Netz hängen – und der Schiedsrichter pfeift ab. Königsblaue Sieger und Geschlagene gehen vom Platz, bloß im Tor zappelt noch ein unglücklicher Torwart… Bisschen skurril, muss man schon sagen.

Ich treffe meine Weltbeste wieder, sie schaut einigermaßen verkniffen – aber sie kennt mich ja – ich probe den vom Dackel erlernten Blick, und wir gehen hinaus zum Parkplatz, der inzwischen mächtig gefüllt ist – offenbar spielt hier im „Spö“ gleich noch „die Erste“, da ist das Interesse grösser. Drüben liegt immer noch ganz ruhig und unbeachtet das Grenzlandstadion, dessen Tribüne – so erzählte mein neuer Freund – früher mal den Bökelberg zierte. Schade, dass dort heute kein Spiel ist, das hätte ich mir gerne angeschaut.

Ein richtig schöner Auswärtssieg war das, der zweite innerhalb von zwanzig Stunden, und jetzt geht’s erstmal heim und dann weiter nach Schalke zum Spiel der Amateure, zur besten Bratwurst der Republik, und zur Abwechslung mal wieder zu einem Heimsieg.
Hoffentlich.

„1904 Geschichten“.
Die Bitte geht an Alle: wenn ihr etwas habt aus über 100 königsblauen Jahren, etwas Wahres und/oder Interessantes über Schalke, das ihr teilen wollt, Erlebnisse die erinnernswert sind oder ganz einfach Schilderungen, wie es war, wie man sich Eintrittskarten besorgte, wo in der Glückaufkampfbahn, dem Parkstadion oder der Arena man „daheim“ war, wie man dahin kam und wie es da zuging, oder was auch immer vielleicht jemand, der Schalke nur vom Fernsehen oder aus der Zeitung kennt, nie oder niemals wirklich wissen kann – aber vielleicht sollte – schickt mir (matthias.berghoefer[at]web.de) einfach eure Texte, Dreizeiler oder halbe Romane und egal wie’s mit Rechtschreibung aussieht. Klar erkennbar muss sein, ob es sich um eine wahre Geschichte handelt oder um einen Prosatext, also einen konstruierten, erfundenen, der etwas Bestimmtes ausdrücken will in Bezug auf den FC Schalke 04.
Wichtig ist natürlich auch, dass ihr kein Problem damit habt, dass euer Text hier, und vielleicht auch irgendwann mal in einem Buch, veröffentlicht wird – natürlich unter eurem Namen, oder einem „Pseudonym“ falls euch das aus irgendeinem Grund lieber ist.
1904 Geschichten sind eine Menge Holz. Ich bin mal gespannt.

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