Karl Hanisch hat ganz vage Erinnerungen an ein Spiel in der Glückaufkampfbahn im Jahre 1941, das womöglich den Anfangspunkt seiner unzähligen Besuche von Schalker Spielen darstellt. Und selbst lief er auch mal im wunderbaren Königsblau auf den Platz, als Halblinker mit der fünften Schülermannschaft gegen die sechste. Das waren noch Zeiten!
Manche Fans kommen zu Fuß zum Spiel, um Schalke zu sehen. Andere sind stundenlang unterwegs. Aber welcher Fan fliegt schon um den halben Erdball, bleibt ein paar Monate im fernen Land und lernt die Sprache, alles nur wegen Schalke? Gibt’s nicht? Doch. Gibt’s.
Ein unfreundlicher Mittwochabend im März 2014. Schauplatz: der Nebenplatz am Ernst-Kuzorra-Weg. Unsere U19 hatte das Nachholspiel gegen Rot-Weiß Oberhausen auszutragen, nicht unbedingt ein Gegner, der zum Kommen anregte. Der eigentliche Grund bestand wohl für viele Zuschauer darin, sich die Mannschaft anzusehen, die ein paar Tage vorher in London im Spiel gegen Chelsea das Halbfinale in der ChampionsLeague erreicht hatte. Dort würde in ein paar Wochen der FC Barcelona warten. An diesem Mittwochabend warteten, wie gesagt, die Oberhausener. Viele Gesichter der Zuschauer waren mir bekannt. Ein Gesicht fiel jedoch in dieser Umgebung aus dem Rahmen, ein hübsches Gesicht, das einer jungen Frau, japanisch aussehend, blau-weißer Schal. Warum war sie da? Hatte sie sich verlaufen? Atsuto Uchida spielte doch in der Ersten und hielt sich außerdem wegen einer Verletzung in Japan auf. Ich ging in Gedanken den Kader der U19 durch. In ihm waren zwar einige Nationalitäten vertreten, aber weit und breit kein Japaner. Egal! Das Spiel gegen Oberhausen begann. Erwartungsgemäß war es unsere U19, die die Tore schoss, zwei in der ersten, zwei in der zweiten Halbzeit. Fast im Weggehen begriffen sah ich irgendwann, kurz vor 21 Uhr, die Nachspielzeit war schon fast vorbei, den Ehrentreffer der Oberhausener.
Es war spät, sehr kühl, ungemütlich, und ich machte mich auf den Weg, um rechtzeitig an der Arenahaltestelle die 302 zu erreichen, die nur im 30-Minuten-Takt in Richtung Innenstadt fuhr. Im Gegensatz zu den Spieltagen unserer Ersten, an denen sich die Fans auf der Brücke zur Haltestelle drängen und die Mitarbeiter der Bogestra oben an der Treppe den Zugang zur Haltestelle regeln, konnte ich ungehindert nach unten gehen. Ganz alleine stand ich dort im Halbdunkel mit einem etwas mulmigen Gefühl im Magen. Ich schaute auf die Armbanduhr – noch fünfzehn Minuten bis zur Ankunft der Bahn. Kein Mensch war zu sehen, nur in der Ferne ahnte man noch das mickrige Flutlicht neben der Geschäftsstelle. Aber dann, wie aus dem Nichts, tauchte neben mir doch jemand auf. Die junge Japanerin, die ich so gar nicht einordnen konnte! Sie grüßte sehr freundlich, ich grüßte zurück. Und so standen wir, ein paar Meter voneinander entfernt, und warteten gemeinsam und doch getrennt auf die Bahn. Ich sah wieder auf meine Uhr. Noch dreizehn Minuten. Es war eine seltsame Situation: Dreizehn Minuten zusammen mit einem freundlichen Menschen auf dem Bahnsteig zu stehen, verlegen, vielleicht auch etwas dumm in die Gegend zu sehen und zu schweigen, diese Vorstellung war mir peinlich. Ich wollte nicht aufdringlich erscheinen, fasste dann aber doch meinen ganzen Mut zusammen und sprach sie an, nicht auf Englisch, erst recht nicht auf Japanisch. Nein, ganz einfach auf Deutsch, und das auch nicht besonders intelligent, ungefähr so: „Sie gehen zum Jugendspiel, obwohl Uchida nicht dabei ist?“ Im Nachhinein empfinde ich diese Ansprache als noch blöder, als ich sie damals, an jenem Mittwochabend, empfunden hatte. Sie aber war unbefangener als ich und antwortete langsam, aber in gutem Deutsch: „Wir japanischen Mädchen lieben auch Draxler und Meyer, und ich Goretzka!“ Damit war der Bann gebrochen, und die wenigen Minuten bis zur Ankunft der Bahn vergingen wie im Flug. In der Bahn fiel mir, der ich ein Vertreter der sehr alten Generation bin, ein, dass ich mich eigentlich hätte vorstellen sollen. Ich holte es nach, erfuhr auch ihren Namen: Kei, kurz und knapp.
Wenn ich sonst zu dieser späten Uhrzeit nach den Spielen unserer Profis mit der 302 Richtung Innenstadt fahre, kann es mir nicht schnell genug gehen. Ich denke dann an die 107 oder an den 382er, die ich eventuell beim Umsteigen nicht mehr mitbekomme, ich denke an den Fußmarsch durch die Dunkelheit Richtung Feldmark. Aber dieses Mal, während der Fahrt mit Kei, ging mir alles viel zu schnell. Alle Ampeln waren grün, kein Aufenthalt unterwegs, und innerhalb von nichts waren wir am Kennedyplatz. Wir verabschiedeten uns freundlich, wünschten uns alles Gute, und sie, die jetzt einen Namen für mich hatte, stieg aus. „Vielleicht sehen wir uns ja noch einmal wieder!“ Und das geschah ein paar Tage später. Mich zog es zum Training zur Arena. Trainiert wurde leider im alten Parkstadion. Viele interessierte Zuschauer standen an dem Zaun hinter der Südkurve, weit weg von den Spielern, die man nur mit Mühe erkennen konnte. Und wen sah ich plötzlich, nur ein paar Meter von mir entfernt? Kei! Ich kannte natürlich noch ihren Namen, und sie konnte sich zu meiner Verwunderung auch noch an meinen Namen erinnern. Wir begrüßten uns, und mein Erstaunen wurde von Minute zu Minute größer. Kei machte mich nicht nur auf Julian Draxler, Max Meyer und natürlich Leon Goretzka aufmerksam, sondern zeigte mir auch die Jungs aus der U19, Donis Avdijaj und Leroy Sané, und sogar den mir vom Sehen her unbekannten Erdmann aus der U23. Ich war völlig baff. Ich renne jetzt inzwischen über siebzig Jahre auf Schalke, und diese Kei, gerade einmal etwas mehr als zwei Monate in Deutschland, zeigte mir, was Schalke ist. Im Januar kam sie aus Japan nach Berlin, besuchte dort einen Monat lang einen Deutschkursus und wechselte dann nach Gelsenkirchen, wo sie bis irgendwann im Mai bleiben wird. Eine Frage lag jetzt in der Luft: „Warum ausgerechnet nach Gelsenkirchen?“ Die Antwort war eindeutig und überzeugend: „Weil ich Schalke liebe!“ Das war der Grund, der einzige Grund, ob Ihr es glaubt oder nicht glaubt! Und in diesem Moment wurde mir wieder einmal klar: In tiefstem Herzen sind wir alle, wenn wir genau nachdenken, Schalker. Dass das sogar für so weit entfernte Länder wie Japan gilt, wusste ich bis dahin allerdings noch nicht.
Was kann ich noch von Kei berichten? Auf jeden Fall so viel, dass sie das Dienstagabendspiel gegen die Dortmunder Borussen in unserem heimischen Wohnzimmer im Kreis meiner Familie sah. Es war, nicht nur angesichts des guten Ergebnisses, ein schöner Abend, den Kei bei der Einwechselung von Philipp Max unmittelbar vor Spielende mit dem kurzen Satz toppte: „Das ist der Sohn von Martin Max!“ Vielleicht kann ich ja noch weiter von ihrem Wissen profitieren. Ich wünschte es mir.
Kei, Ende April 2014. Im Hintergrund die Schalker U19, die eben das Spitzenspiel in Leverkusen gewonnen hatte
„1904 Geschichten“.
Die Bitte geht an Alle: wenn ihr etwas habt aus über 100 königsblauen Jahren, etwas Wahres und/oder Interessantes über Schalke, das ihr teilen wollt, Erlebnisse die erinnernswert sind oder ganz einfach Schilderungen, wie es war, wie man sich Eintrittskarten besorgte, wo in der Glückaufkampfbahn, dem Parkstadion oder der Arena man „daheim“ war, wie man dahin kam und wie es da zuging, oder was auch immer vielleicht jemand, der Schalke nur vom Fernsehen oder aus der Zeitung kennt, nie oder niemals wirklich wissen kann – aber vielleicht sollte – schickt mir (matthias.berghoefer[at]web.de) einfach eure Texte, Dreizeiler oder halbe Romane und egal wie’s mit Rechtschreibung aussieht. Klar erkennbar muss sein, ob es sich um eine wahre Geschichte handelt oder um einen Prosatext, also einen konstruierten, erfundenen, der etwas Bestimmtes ausdrücken will in Bezug auf den FC Schalke 04.
Wichtig ist natürlich auch, dass ihr kein Problem damit habt, dass euer Text hier, und vielleicht auch irgendwann mal in einem Buch, veröffentlicht wird – natürlich unter eurem Namen, oder einem „Pseudonym“ falls euch das aus irgendeinem Grund lieber ist.
1904 Geschichten sind eine Menge Holz. Ich bin mal gespannt.
Sehr schöne Geschichte. Der alte Spruch : „Dat is mein Schalke“ passt hier wunderbar. Schalke ist halt nicht nur ein Teil von Gelsenkirchen, sondern weit mehr und kennt schon gar keine nationalen Grenzen.