Hilferuf eines Verzweifelten

Karl Hanisch hat ganz vage Erinnerungen an ein Spiel in der Glückaufkampfbahn im Jahre 1941, das womöglich den Anfangspunkt seiner unzähligen Besuche von Schalker Spielen darstellt. Und selbst lief er auch mal im wunderbaren Königsblau auf den Platz, als Halblinker mit der fünften Schülermannschaft gegen die sechste. Das waren noch Zeiten!

Königsblaue Zeiten, im wahrsten Sinne des Wortes…ganz anders als in diesen Tagen, in denen man sich – gerade in NRW – vor schwatzgelben Farben nicht mehr retten kann.


Gestern Abend, zwei Tage vor dem deutschen CL-Finale im Londoner Wembleystadion, stand das Westfalenpokal-Finale unserer U19 gegen Borussia Dortmund auf meinem Programm. Nicht unerwartet gewannen wir 1:0. Ich freute mich selbstverständlich über den Sieg, war er doch eine vorläufige Krönung der tollen Saison unserer Junioren. Ich freute mich noch aus einem anderen Grund. Ich fürchtete nämlich, dass bei einer Niederlage am nächsten Tag, also heute, die Titelseiten aller großen Tageszeitungen vom Norden bis zum Süden, vom Westen bis zum Osten überschwänglich den Erfolg des Dortmunder Nachwuchses vermelden würden, mit Fotos, Interviews von Klopp und Watzke, in denen die schon seit Jahren überragende Nachwuchsarbeit ihres Klubs gelobhudelt würde. Gott sei Dank ist es anders gekommen. Wir haben gegen die Borussen gewonnen, wieder einmal in dieser Saison. Doch dazu später mehr.

Relativ früh wachte ich heute Morgen nach einer unruhigen Nacht auf, nicht gerade liebevoll von meiner Frau geweckt: „Die ganze Zeitung ist wieder schwarz-gelb!“ Völlig überrascht war ich nicht, denn so ging es ja schon seit einigen Tagen. Klopp forderte die ganze Welt auf, hinter den Dortmundern zu stehen. Eigentlich forderte er sie nicht auf, für ihn war es ohnehin klar, es war für ihn, moralisch gesehen, selbstverständlich. Für Watzke, den umtriebigen Geschäftsführer, der vor Auswärtsspielen auf Schalke so wunderschön deeskalierende Interviews gibt, um dann vor Heimspielen umso eskalierender zu hetzen, existieren wir Schalker überhaupt nicht mehr. Er erhob die Paarung mit Bayern München zum „Germanico“, zu dem einzigen Derby in Deutschlands, dass noch von Interesse sei, wie er meinte.

Ach ja, die Tageszeitung. Der Borussennachwuchs war auf der Titelseite nicht erwähnt, sie hatten ja verloren. Statt dessen ging es los mit „Pils gegen Weißbier“ und der Warnung „Alles Weitere zum Finale: Sport, Rhein-Ruhr und Sonderbeilage“. Ich legte die ersten Seiten weg und schlug, wie üblich, die Sportseiten auf: Lewandowski in schwarz-gelb, fast in Lebensgröße abgebildet, er bedeckte fast den ganzen Frühstückstisch. Dann Watzke mit „Fakt ist: Es gibt derzeit in Europa nur einen Klub, der in der Lage ist, Bayern zu schlagen: Das ist Borussia Dortmund.“ Ihr merkt, es war ein Anfall von Demut. Im Normalfall hätte er nämlich „derzeit auf der Welt“ gesagt. Kommentiert wurde das als „Bekenntnisse eines Riesen“. Ein kleiner Trost wurde jedoch angefügt mit dem dezenten Hinweis, dass auf ähnliche Weise, wie die Bayern Götze geangelt haben, auch die Borussen auf unfeine Art Sokratis den Leverkusenern abgeluchst hätten, der sich schon mit Bayer, also denen aus Leverkusen, handelseinig gewesen sei. Rudi Völler, der Sportchef von Leverkusen, setzte zu meiner Freude noch einen drauf, indem er die Dortmunder, was den Transfer von Sokratis angeht, als scheinheilig bezeichnete. Verwunderlich, dass dieser Wortlaut, der doch so gegen den allgemeinen Trend verstößt, veröffentlicht wurde. Er geht wirklich gegen den Trend, denn es ist doch bekannt, und zwar auf der ganzen Welt, dass die Borussen fast nur mit Eigengewächsen spielen. Wer fällt mir da ein? Spontan eigentlich nur Götze, Schmelzer und Großkreutz, wobei Schmelzer erst in der A-Jugend ein Dortmunder Eigengewächs wurde und Großkreutz ……… Egal, darauf will ich jetzt nicht näher eingehen. Und dann gibt es noch den Reus, der mal in der Jugend für unsere Nachbarn gespielt hatte. Sein Talent erkannten sie jedoch erst, als er in Mönchengladbach spielte. Diese späte Erkenntnis ließen sie sich 30 Millionen Euro kosten. Aber sie haben es ja. Echtes Eigengewächs ist also nur der Allgäuer Götze, der sich rechtzeitig vor dem großen Spiel verletzt hat und auch fast weg ist, auf zu den Bayern. Ob die Verletzung vertraglich mit den Bayern vereinbart wurde?

Wir Schalker können, was die Nachwuchsförderung angeht, doch nur neidisch nach Dortmund sehen. Bei uns waren im letzten Spiel nur fünf aus der eigenen Jugend auf dem Platz: Höwedes, Matip, Kolasinac, Draxler und Meyer. Aber auch der aktuelle Nachwuchs der Borussen schlägt sich, im Vergleich zu uns, tapfer, sagen wir mal, relativ tapfer. Die beiden älteren Jugendjahrgänge liegen, insgesamt gesehen, nur schlappe einundsiebzig Punkte hinter unserer U19 bzw. U17. Das ist aber auch kein Wunder, könnten die Borussen einwenden, sofern sie sich noch für uns interessierten. Sie könnten sagen: „So weit vor uns zu liegen, das ist ein Leichtes, denn ihr seid doch mit beiden Mannschaften Meister in der Bundesliga West geworden und steht außerdem noch im Halbfinale um die Deutsche Meisterschaft“. Und da haben sie Recht. Wären nicht unsere Junioren da oben, sondern beispielsweise Rhenania Würselen oder BV Rentfort, dann hätten die eben den gleichen Vorsprung. Wir sind also nichts Besonderes, es hat uns rein zufällig getroffen.

Es liegt mir fern, überheblich zu werden: Unsere U19 gewann gestern nur mit Mühe den Westfalenpokal gegen, um das noch einmal zu erwähnen, die Borussen. Und die U17 ist in der nächsten Woche, ebenfalls im Finale um den Westfalenpokal, zwar hoher Favorit, hat aber noch nicht gewonnen. Gegen wen? Gegen die Borussen. Wenn sie siegten, dann bedeutete das, dass unser Nachwuchs gegen den Nachbarn in sechs Spielen sechs mal gewonnen hätte. Wie waren die Ergebnise? 5:2, 1:0, 4:3, 4:0, 1:0. Und ein Spiel fehlt ja noch.

Jetzt habe ich mich aber ablenken lassen. Ich komme mal wieder auf den Sportteil meiner überregionalen und neutralen Tageszeitung zurück, die zur Zeit so sehr auf die Borussen abfährt, weil doch deren Erfolg auch ein Erfolg unserer gesamten Region ist. Auch auf uns Gelsenkirchener fällt doch etwas von deren Glanz ab. Warum? Ist doch klar, wir, also unsere Senioren, haben die fast Unbezwingbaren in dieser Saison zweimal besiegt. Das kann uns niemand nehmen, auch Klopp nicht, der die sechs Punkte für sich reklamiert, weil doch der BVB, so sagte Klopp, im Normalfall nie gegen Schalke verlieren könne. Außerdem könnten wir im Fall eines Dortmunder Erfolges im Finale der Champions-League T-shirts drucken lassen: „I love Dortmund“ oder „Doppelsieger gegen die Weltbesten“. Vielleicht auch statt Doppelsieger „Derbysieger“. Aber nein, laut Watzke gehören wir ja nicht mehr dazu. Egal, durch den massenweisen Absatz solcher T-shirts würde doch die Gelsenkirchener Wirtschaft einen großen Aufschwung erleben, ganz abgesehen von der Biermenge, die in den nächsten Tagen in unserer Wirtschaft flösse.

Einen interessanten Hinweis, der mich träumen ließ, fand ich noch oben links auf der ersten Seite des Sportteils, direkt über der Warnung, dass nämlich weiter hinter „Noch mehr zum Finale: Acht Seiten Beilage“ käme. Wie hieß es da, etwas unscheinbar: „Champions League: Finale 2015 in Berlin“. Berlin, das können wir! Wir können ja schon mal, wie es die Borussenfans in London machen, Handtücher auf die Sitze legen und auf deutsche Weise Plätze reservieren. Noch einmal ein deutsches Finale? Wir gegen die Dortmunder? Das wäre nicht schlecht. Dortmund, das habe ich ja eben wohl deutlich gezeigt, das können wir.

Beim Umblättern der Sportseite kamen mir jedoch leichte Bedenken. „Trainer, lass uns raus“. Unter dieser Schlagzeile wurde ein Interview mit jemandem namens Frank Wormuth gedruckt, der, wie es dort steht, die Trainerausbildung des DFB leitet. Was stand dort zu der Frage, welchen Plan Klopp habe – für den Fall, dass man es vergessen hat, das ist der Trainer der Borussen aus Dortmund – also welchen Plan Klopp habe, um die Bayern zu schlagen. „Es gibt Situationen auf dem Platz, in denen es eine höhere Wahrscheinlichkeit gibt, dass ein Tor fällt. Wir versuchen den Gegner durch unser Verhalten in diese Situationen zu bringen und Momente zu kreieren, die diese Wahrscheinlichkeit erhöhen. Hört sich kompliziert an.“ Jetzt bin ich etwas verwirrt. Kreiert Klopp? Oder sagt das der Wormuth vom DFB, mit dem dieses Interview geführt wurde? „Wir versuchen ….!“ Zitiert der Wormuth den Klopp, oder sind das seine eigenen Gedanken, also die vom DFB-Mann? Wie komme ich jetzt auf das häufig in den Stadien gerufene „Fußballmafia DFB“? Haben die etwa schon für 2015 alles in die Wege geleitet. Mich wundert gar nichts mehr.

Ich blätterte weiter. Die nächste Seite war ein Lichtblick, allerdings mit einer Einschränkung. „Hoffenheim auf dem Weg zum Klassenerhalt“, las ich, dafür aber nichts über das Spiel. Dann kam der „Sport in Gelsenkirchen“, den es, man sollte es kaum glauben, auch noch gibt. Ob es wohl auch noch in anderen Städten des Ruhrgebiets, in Deutschland, auf der Welt noch einen Lokalsport gibt? Bei uns gibt es den noch, und er ist, ganz ohne Einschränkung, die reinste Erholung. Der wahrscheinlich einzige Sportredakteur meiner Zeitung, der nicht auf die Borussen angesetzt ist, wahrscheinlich ein Praktikant, glänzte mit der Schlagzeile „Donisi Avdijaj macht mit dem Siegtor die Pokal-Revanche gegen den BVB perfekt“. Wie sagt man heute so schön? Geht doch! Aber auch dieser Praktikant streute noch ein wenig Salz in die Wunden der Schalker: „Die Dortmunder haben ordentlich dagegen gehalten“. Wenn ich ehrlich bin, schrieb das jedoch nicht der Praktikant, sondern das sagte Ruhnert, unser sportlicher Nachwuchsleiter, den der Praktikant zitierte. Er, also Ruhnert, ist wirklich sportlich. Für ihn gibt es noch einen Gegner hier im Ruhrpott. Er sucht ihn nicht in Bayern, wie er es ja auch hätte machen können. Denn dieser andere Riese in der Welt, hinter dem die restlichen 10% stehen, die nicht zum BVB halten, könnte der Gegner unserer U19 im Finale um die deutsche Meisterschaft sein. Vielleicht auch noch zusätzlich, ich weiß es nicht so genau, der Gegner unserer U17, falls die ins Finale kommt. Unser sportlicher Leiter ignoriert also nicht den Riesen in unserer Nachbarschaft.

Was fand ich noch in der WAZ, der selbsternannten Zeitung des Ruhrgebiets. Auf der dritten Seite unter „Rhein-Ruhr“ las ich: „Die Bazis aus dem Ruhrpott“. Haben die Dortmunder etwa einen Gegner im Wembleystadion? Die Münchener? Auf derselben Seite fand ich den Artikel „Sie haben das Spiel der Spiele schon gewonnen“. Hier waren allerdings zu meiner Verwunderung nicht die Borussen, sondern sechs WAZ-Leser gemeint, die wohl noch Karten bekommen haben. Und oben links las ich: „Sonderausgabe der WAZ direkt nach Finale“. Nach dieser Drohung reichte es mir. Ich kloppte die bereits angedrohte ausklappbare achtseitige Beilage „Borussia Dortmund gegen Bayern München“, mit der man eine hässliche Tapete noch hässlicher machen könnte, in die Tonne und dachte mit Schrecken an den morgigen Samstagabend. Ich werde mir das Spiel nicht ansehen, sondern antun. Für wen bin ich? Für keinen. Gegen wen bin ich? Gegen beide? Was wünsche ich mir? Ein endloses Elfmeterschießen. Die Riesen könnten von mir aus schießen, verschießen, und das alles im Gleichklang.
Und wir hätten den Fußball für uns.


„1904 Geschichten“.
Die Bitte geht an Alle: wenn ihr etwas habt aus über 100 königsblauen Jahren, etwas Wahres und/oder Interessantes über Schalke, das ihr teilen wollt, Erlebnisse die erinnernswert sind oder ganz einfach Schilderungen, wie es war, wie man sich Eintrittskarten besorgte, wo in der Glückaufkampfbahn, dem Parkstadion oder der Arena man „daheim“ war, wie man dahin kam und wie es da zuging, oder was auch immer vielleicht jemand, der Schalke nur vom Fernsehen oder aus der Zeitung kennt, nie oder niemals wirklich wissen kann – aber vielleicht sollte – schickt mir (matthias.berghoefer[at]web.de) einfach eure Texte, Dreizeiler oder halbe Romane und egal wie’s mit Rechtschreibung aussieht. Klar erkennbar muss sein, ob es sich um eine wahre Geschichte handelt oder um einen Prosatext, also einen konstruierten, erfundenen, der etwas Bestimmtes ausdrücken will in Bezug auf den FC Schalke 04.
Wichtig ist natürlich auch, dass ihr kein Problem damit habt, dass euer Text hier, und vielleicht auch irgendwann mal in einem Buch, veröffentlicht wird – natürlich unter eurem Namen, oder einem „Pseudonym“ falls euch das aus irgendeinem Grund lieber ist.
1904 Geschichten sind eine Menge Holz. Ich bin mal gespannt.

2 Antworten zu “Hilferuf eines Verzweifelten

  1. Tue es dir NICHT an Karl…mache ich auch nicht. Geh spazieren oder in die Kneipe, schau 97 noch mal oder 58, sortiere alte Eintrittskarten oder schreibe etwas über Schalke, oder ruf mich an, oder geh einfach schlafen. Das Ergebnis wird dir deine WAZ schon noch rechtzeitig mitteilen und so oder so, es wird leider, leider einen Gewinner geben. BWG, Stefan

  2. Was gab es dazu noch letztens treffliches zu lesen:
    „Die Freude über den Untergang der Schwattgelben im Finale ist durch den Sieg der Bazen wieder erloschen“ 😉

    GA,
    Enatz

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