Die längste Auswärtsfahrt

„Heo“ kroch 1953 in Schalke aus dem Ei und erlebte auf den Schultern seines Vaters den Autocorso zur letzten Meisterfeier am Schalker Markt. Mit dem Onkel im selben Jahr erstmals bei einem Flutlichtspiel in der Glückaufkampfbahn, mit acht das erstemal zu Hause ausgebüxt, um ins Stadion zu kommen, später Nachbar von Schalker Profis und schon „ewig“ Vereinsmitglied, na klar.

Mit Schalke unterwegs, da kann man was erleben. Und manchmal dauert’s auch länger als gedacht…


Willi und ich gehören zu denen, die ihrem Verein überall hin folgen. So zog es uns auch am 06.12.10 für drei Tage in die Ferne. Via Zeckenhausen Airport ging es über London nach Lissabon. Ohne Probleme kamen wir in unserem Hotel in Lissabon an. Das Hotel war nicht weit vom Stadion entfernt, was sich noch als Vorteilhaft herausstellen sollte. Schnell frisch gemacht und ab mit der Metro ins Barrio Alto denn wir hatten eine Verabredung in der bei Schalkern bekanntesten Kneipe in Lissabon. Im Barrio Alto angekommen trafen wir schon auf viele Schalker und bekannte Gesichter. Die Altstadt der portugiesischen Hauptstadt ist ein Eldorado für Leckermäulchen, ein Restaurant neben dem anderen. Wie können die alle überleben? Wir haben erst einmal geholfen. Eine anständige Fischplatte und ein paar Bierchen machten einen Kellner glücklich.

Langsam wurde es dämmerig und die Stadt wurde durch weihnachtliche Beleuchtung erhellt. Um 19:04 Uhr sollte die Party der Schalker in einer weltberühmten Kneipe steigen. Wir hatten uns für diesen Zeitpunkt in der Tequila Bar „A Tasca“ verabredet. Es wurde Zeit, dass wir uns auf die Suche nach der Kneipe, nichts anderes heißt „A Tasca“, machten. Es ist gar nicht so leicht, sich in Lissabon zu orientieren: Es geht rauf und runter, mit Fahrstühlen oder über Treppen, durch enge verwinkelte Gassen und Straßen. Ein Stadtplan hilft da nur bedingt.

Wenn man Schalker sucht, hält man sich am besten an Schalker. Bei unserer Suche konnten wir uns immer an den Schlachtgesängen orientieren. Als wir endlich die Kneipe gefunden hatten, staunten wir nicht schlecht. Die Gasse, in der sich Die Tequila Bar befand, wurde von fröhlich singenden Schalker fast ausgefüllt. Wir wühlten uns da durch und schafften es bis an die Theke. Bier bestellt und dann erst einmal umgeschaut. In diese Kneipe gingen gerade mal 30 bis 40 Leute, mehr Platz war hier nicht. Alle, die sich hier treffen wollten, waren auch da und es gab erst einmal ein großes Hallo und eine Fotosession. Die Jungens hinter der Theke hatten am Anfang wohl Angst, dass wir ihnen den Laden zu Staub zermahlen und hofften, dass wir schnell wieder verschwinden. Als aber nichts dergleichen passierte, wurden sie etwas lockerer, nahmen die ganze Sache aber noch nicht so richtig ernst. Nach gut drei Stunden war das Bier aus und es musste schnell Nachschub besorgt werden. Der Nachschubbesorger kam nach 15 Minuten mit einem 30 Literfass zurück und strahlte dabei wie ein Honigkuchenpferd. Ja, was glaubt denn der, wie lange so ein Fässchen bei ca. 350 durstigen Kehlen hält? Also los und gleich noch zehn von den Dosen geholt.

Der Abend wurde immer entspannter und plötzlich drangen auch Schalker Töne aus der Musikanlage, der Chef hinter der Theke gab eine Tanzeinlage und versucht „Oppa Pritschikowski“ mit zu singen. Plötzlich tauchten auch ein paar Studentinnen auf, die auf die Schalker in der Gasse angesetzt wurden. Es klappte mit der Animation aber wohl nicht richtig und der Chef ordnete an, dass die Mädels die Rollkragenpullover ausziehen. Nach dieser Befreiung der Talente floss das Bier noch schneller. Der Wirt zeigte, wie flexibel er war, und dass er sich jederzeit neu auf die Situation einstellen konnte. Nach dem siebten oder achten Jameson (irischer Whisky) wurde Willi müde und wir verdrückten uns ins Hotel. Ein schöner und unvergesslicher Abend war zu Ende.

Am nächsten Tag bereiteten wir uns ab Mittag auf das Spiel am Abend vor. Die „A Tasca“ war wegen plötzlichen Reichtums geschlossen und der Wirt entweder in Urlaub oder in Rente. Die Barrio Alto füllte sich immer mehr mit Schalkern, obwohl das Wetter regnerisch wurde. An einer Ecke stand ein total verkommener Typ, der in Folie eingewickeltes Haschisch oder Koks in Plastiktütchen anbot. Ein paar Meter weiter standen ein Paar Polizisten, die sich über die Käufer lustig machten, weil sie wussten, dass der Typ nur Sägespäne und Backpulver verkauft. Abends vor dem Spiel goss es dann in Strömen und die Herren von der Polizei sorgten dafür, dass wir so richtig schön nass wurden. Wir stellten uns vor dem Stadion unter einer Brücke unter. Hier gab es billig Bier und Bratwurst. Ein Spanier, der wegen Raul in Lissabon war, wollte mir meine Regenjacke abkaufen. Er bot mir zuletzt 100€ aber ich habe es nicht gemacht, weil ich nicht nass werden wollte.

So aggressiv wie in Lissabon habe ich die Polizei auf meinen vielen Touren mit Schalke noch nie erlebt. Sie versuchten doch tatsächlich alle Schalker in einen Block zu pressen und alles was links und rechts ausweichen wollte bekam was auf die Mütze. Irgendwann bemerkten sie dann, dass das nicht geht und zogen sich zurück. Benfica wurde mit 2:1 abgefertigt und wir durften das Stadion nicht verlassen. Es wurde so lange gewartet bis der nächste Regenschauer vom Himmel stürzte und alle Schalker nass bis auf die Haut waren. Willi lief das Wasser aus den Schuhen und er hatte die Faxen dicke. Ab ins Hotel. Das waren nur zwei Metro Stationen und wir waren schnell da. Die Hotelbar war noch geöffnet und da ich dank meiner Regenjacke nicht allzu nass geworden war, ließ ich mich da auch gleich nieder. Willi zog sich nur kurz trockene Sachen an und dann konnte die Siegesfeier starten.

Am nächsten Morgen wurden wir von Sonnenstrahlen geweckt und die Temperatur war Frühlingshaft um die 20°C. Heute war Rückreisetag. Wir hatten genug Zeit zum Frühstücken und Hotel Check out. Der Bus zum Flughafen war auch pünktlich. Ab zum Flughafen, Check in, Sicherheitsüberprüfung, ab in die Wartezone. Alles ohne Probleme. Der Flieger ist pünktlich und das Einsteigen geht reibungslos. Start und ab nach London. Perfekte Landung bei schlechten Bedingungen. Nebel und Schnee. Da wir erst einen Anschlussflug für den nächsten Morgen um 07:00 Uhr hatten wollten wir gleich nach der Landung an den Schalter von Easy-Jet und auf die 20:00 Uhr Maschine umbuchen. Wir hatten wenig Hoffnung, dass unser Vorhaben funktioniert und richteten uns gedanklich schon auf eine Übernachtung auf dem Flughafen ein. Am Schalter von Easy-Jet angekommen trug Willi unsere Bitte vor und ohne zu zögern bekamen wir zwei Tickets für die Abendmaschine. Die Freude war riesig. 12 Stunden früher zu Hause. Klasse. Ab zum Check in. Bordkarten empfangen, Sicherheitscheck und ab in die Wartezone.

Jetzt ging es los.

Die Maschine hatte Verspätung, eine Stunde, zwei Stunden. Endlich leuchtet das Licht auf und die Maschine wird aufgerufen. Ab zum Gate. Dort sagte man uns, dass die Maschine nicht kommt und alle Flüge nach Zeckenhausen gestrichen sind. Da liegen 10 cm Schnee. Ja bekommen die denn in dieser Stadt gar nichts hin? Mit einem Führer erreichten wir wieder die Eingangshalle dieses vermaledeiten Flughafens und bekamen die Info, dass wir an den Check in Schaltern neu Flüge erhalten könnten. Alles stürmte zu den Schaltern. Als Willi und ich endlich dran waren, wollten wir unser alte Flüge zurück, aber wir ernteten nur ein Grinsen dieses blöden Heinis, der uns die Flüge vorher umgebucht hatte. Jetzt musste gerettet werden, was zu retten war. Gibt es Flüge nach Düsseldorf, Münster, Paderborn oder Köln-Bonn? Weeze würde auch noch gehen. Wir konnten am Donnerstag nach Kopenhagen, Amsterdam Frankfurt oder München. Nach Zeckenhausen gab es erst am Freitag wieder einen Flug um 07:00 Uhr. Wenn wir den nähmen, würden wir für zwei Nächte in einem Hotel in der Nähe untergebracht und Easy-Jet käme für alle Kosten auf. Ein kurzer Blick in Willis Augen und im Chor kam ein „nehmen wir!“.

Jetzt noch schnell zu Hause angerufen und der Ehefrau erklärt, warum wir erst zwei Tage später nach Hause kommen würden und mit etwa zehn weiteren Passagieren ging es zu einem Busparkplatz. Wir stiegen ein und los ging es zu einem Hotel in der Nähe. Nach einer Stunde Fahrt fingen zwei sehr korpulente Frauen an, panisch zu reagieren, denn die Straße war mittlerweile nur noch einen halben Meter breiter als der Bus, von hohen Mauern gesäumt und gänzlich unbeleuchtet. Ein Holländer, der gut deutsch und englisch sprach, versuchte aus dem Busfahrer heraus zu bekommen, wo er uns denn hinbringen würde. Die beiden Dicken kreischten schon wie verrückt und ich dachte an Betäubung. Der Busfahrer wollte in eine Ortschaft namens Codicote und dort in das Hotel „The Node“, das noch genügend freie Zimmer habe. Die Dicken spielten immer noch verrückt und faselten von Entführung und Mord. Sie wollten den Bus sofort verlassen. Ich hoffte, der Fahrer würde die Türen aufmachen und ließe die zwei aussteigen – ohne anzuhalten… Endlich sahen wir ein Schild mit dem Namen des Hotels. Der Busfahrer sah aber keine Veranlassung, das Tempo des Busses zu drosseln und fuhr an der Einfahrt zum Hotel vorbei. Er könne mit dem Bus nur aus der anderen Richtung auf den Hotelparkplatz einbiegen, da sei der Einfahrtradius größer, meinte der Fahrer. Also ging es noch ein paar Kilometer weiter bis eine Gelegenheit zum Wenden kam.

Endlich im Hotel angekommen dachten Willi und ich, dass jetzt alles in Ruhe zu Ende ginge. Denkste! An der Rezeption stand ein alter Tattergreis von ca. 85 Jahren und erklärte, dass er nur noch sechs Zimmer für uns 12 Personen hätte. Da ja nur zwei Frauen dabei waren, wäre das ja kein Problem. Wieder denkste. Die beiden Dicken bestanden auf Einzelzimmern. Diskussion, Geschrei und Gekeife. Der alte Mann war total hilflos. Es dauerte eine halbe Stunde, bis die Frauen doch bereit waren, eine Matratze zu teilen. Es ging auf 02:00 Uhr zu und die Dicken mussten um 05:00 Uhr wieder aus den Federn, wofür also das Theater? Der alte Mann stand hinter seinem Tresen und freute sich sichtlich über die Einigung bei der Zimmerverteilung. Ein Blick in Willis Augen signalisierte ihm, dass er den Schlüssel für das Zimmer sofort greifen sollte, damit wir ein Zimmer hätten, falls es sich die Dicken doch noch einmal überlegen sollten.

Ich blicke zur Rezeption zurück, da war der alte Mann verschwunden. Zusammengebrochen, schoss es mir durch den Kopf. Ein Blick über den gut 130 cm hohen Tresen bestätigte meine Befürchtung. Der alte Mann kauerte zusammengesunken hinter dem Tresen auf dem Boden. Aber nicht etwa, weil sein Kreislauf nicht mehr mitspielte, sondern weil in dem Tresen auch das Schlüsselregal war, aus dem er gerade die Schlüssel für unsere Zimmer fischte. Willi grabschte sich einen Schlüssel und wir sahen zu, dass wir auf unser Zimmer kamen. Einmal um das ganze Anwesen herum durch ein Zauntor und eine Hintertür in eine kleine Diele mit einer etwa 1000°C heißen riesigen Heizung. Jetzt die Treppe hoch, einen Gang entlang, noch eine Treppe hoch und zweimal links herum und schon waren wir an unserem Zimmer. Willi schloss auf und wir betraten den Raum. Als ich das Bett sah, bin ich vor lachen fast zusammen gebrochen. Willi guckte mich ganz erstaunt an und wusste nichts mit meinem Anfall an zu fangen. Das Bett war nur 1,40 m breit und ich stellte mir die beiden Dicken darin vor, unter nur einer Decke. Ob die wollten oder nicht, die mussten kuscheln. Willi meinte, darauf müssten wir noch einen „Gute Nacht Trunk“ zu uns nehmen. Ab ging es an die Bar. Raus aus dem Zimmer zweimal rechts herum, die Treppe runter den Gang entlang, noch einmal die Treppe runter, an dem bollernden Heizkörper vorbei, durch die Hintertür und das Zauntor, um das Anwesen herum, zum Vordereingang rein und dann in die Bar. Zwei Handelsreisende nahmen auch noch einen Drink. Kein Barkeeper vor Ort. Bediente man sich hier selbst?

Bevor wir selber zapften erschien der Alte Man. Er stellte sich mitten in den Raum nahm Haltung an und erklärte :“Ladies and gentlemen (Ladies waren gar nicht anwesend), my name is James and I am the night porter.“ Er ging hinter den Tresen und nahm unsere Bestellung entgegen. Nach jeder Bestellung sollten wir bezahlen und mussten ihm immer wieder erklären, dass Easy-Jet alles bezahlen würde. Er schrieb dann alles auf einen Zettel und spießte diesen auf einen langen Nagel auf. Als die beiden Dicken Damen dann gegen 06:00 Uhr mit dem Taxi Richtung London verschwanden (sie hatten den Flug nach Amsterdam genommen und wollten von dort aus mit dem Zug nach Hannover fahren) gingen Willi und ich dann auch ins Bett. „Good night James“, „Good night Gentlemen“. James zog alle Zettel von dem Nagel und warf sie ins Kaminfeuer.

Der nächste Tag begann mit dem Mittagessen und setzte sich fort mit einem Spaziergang durch die japanischen Gärten des Hotels mit Blick auf die englische Landschaft, in der sich Hase und Fuchs gute Nacht sagten. Er endete wie der letzte, nur etwas früher denn wir mussten ja um 06:00 am Flughafen sein. Der Flieger kam pünktlich und brachte uns sicher nach Zeckenhausen und ohne weitere Abenteuer kamen wir zu Hause an.

Das war unsere längste Auswärtstour, anstatt wie geplant drei Tage wurden daraus fünf und das nur, weil in Zeckenhausen keiner in der Lage war, zehn Zentimeter Schnee von der Landebahn zu fegen. Easy-Jet musste für Willi und mich ganz schön bluten, das waren geschätzte 350 bis 400 Euro pro Kopf. Wir hatten für den Flug hin und zurück 81 Euro bezahlt.


„1904 Geschichten“.
Die Bitte geht an Alle: wenn ihr etwas habt aus über 100 königsblauen Jahren, etwas Wahres und/oder Interessantes über Schalke, das ihr teilen wollt, Erlebnisse die erinnernswert sind oder ganz einfach Schilderungen, wie es war, wie man sich Eintrittskarten besorgte, wo in der Glückaufkampfbahn, dem Parkstadion oder der Arena man „daheim“ war, wie man dahin kam und wie es da zuging, oder was auch immer vielleicht jemand, der Schalke nur vom Fernsehen oder aus der Zeitung kennt, nie oder niemals wirklich wissen kann – aber vielleicht sollte – schickt mir (matthias.berghoefer[at]web.de) einfach eure Texte, Dreizeiler oder halbe Romane und egal wie’s mit Rechtschreibung aussieht. Klar erkennbar muss sein, ob es sich um eine wahre Geschichte handelt oder um einen Prosatext, also einen konstruierten, erfundenen, der etwas Bestimmtes ausdrücken will in Bezug auf den FC Schalke 04.
Wichtig ist natürlich auch, dass ihr kein Problem damit habt, dass euer Text hier, und vielleicht auch irgendwann mal in einem Buch, veröffentlicht wird – natürlich unter eurem Namen, oder einem „Pseudonym“ falls euch das aus irgendeinem Grund lieber ist.
1904 Geschichten sind eine Menge Holz. Ich bin mal gespannt.

2 Antworten zu “Die längste Auswärtsfahrt

  1. Geile Story!!!
    …und im „A Tasca“ haben wir uns ja schließlich auch getroffen;-)

  2. Super Story… In der Kneipe war ich auch am Abend vorm Spiel 🙂

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