Das schönste Spiel

Tobias Lenniger aus dem Kreis Lippe war 95/96, bei einer Niederlage im Revierderby, das erste Mal auf Schalke und würde heute noch ohne zu zögern die Arena gegen das Parkstadion zurück tauschen.

5:2 Auswärtssieg bei Inter Mailand – ein unfassbares Erlebnis. Vorher konnte es ja keiner ahnen, und vielleicht deshalb wollten gar nicht sooo viele Schalker im San Siro dabei sein. Tobias aber schon, und also machte er sich auf den Weg gen Süden.


Wenn mich jemand anruft und sagt „Komm mit, Schalke!“, dann mach ich das. So auch in einer denkwürdigen Nacht im April 2011 – auf zum Auswärtsspiel bei Inter Mailand!

Abgemacht war, mit meinen Kumpel aus Bielefeld die Italiener das fürchten zu lehren, dazu wollten wir den Bus einer der bekanntesten Fan-Gruppen des FCS04 nutzen. Zwei Ostwestfalen auf dem Weg nach Italien, Arminius sollte uns dabei eigentlich wohl gesonnen sein, so dachte ich jedenfalls. Er nutzte die Direktanreise nach GE, ich wählte aus meinem derzeitigen Zuhause Fulda eher den Zustieg kurz nach Wiesbaden.

Schon Tage vorher bereitete ich mich auf mein zweites Auslandsspiel vor, die Situation unserer Blauen war wie folgt: Erfolglos in der nationalen Liga, erfolgreich im Pokal und Champions League und gegen das große Inter Mailand waren unsere Jungs bei jedem Wettanbieter nahezu chancenlos. So gesehen war für mich das Dabeisein alles.

Am Abend schmierte ich mir Schnitten, packte Bier und anderes Gesöff ein. Vor der Fahrt wollte ich mich noch zur Ruhe legen und ganz entspannt den Weg antreten. Es gelang mir einfach nicht, so blieb ich vor dem Rechner sitzen, in der Hoffnung pünktlich los zu fahren. Da mir eine Raststätte genannt wurde, war mein ganz simpler Plan, erstmal den Ort anzufahren, dort in der Nähe, in dem Glauben, dass es ein Autohof ist, den Autohof suchen, welcher mir den Zustieg erleichtern würde.

Meine Uhr schien einen Knick zu haben, so fuhr ich zwar relativ früh, aber für meinen Geschmack doch etwas zu spät los.

Und dann auch noch das: Tank leer. Ich tankte lippisch (also „knapp“), sodass ich zumindest bis zum Rastplatz nähe Wiesbaden kommen sollte! Aufbruchstimmung, los gings, Schalke Musik an, die Lokalmatadore ebneten mir voller Vorfreude den Weg.

Den falschen Weg allerdings, denn zuerst fuhr ich ein paar Kilometer in die falsche Richtung, mein altes Navi zeigt mir nämlich nur die Postleitzahl des gewünschten Ortes an, aber Richtung Kassel sollte es eigentlich nicht sein. Immerhin 20 km Umweg. „Gut in der Zeit“ war ich inzwischen auch nicht mehr.

100 km später, ich merkte langsam, dass der Tankanzeiger nicht mit meiner kleinlichen Wegberechnung konform war. Trotz sparsamer Fahrt fraß der Wagen mehr als gedacht und mir schwante Böses. [Anmerkung: Seit diesem Tag tanke ich übrigens kein E10 mehr, der Bordcomputer berechnet seine Reichweite, aber dank dem lustigen Mix der Mineralölkonzerne kann er seine Versprechen nicht einhalten.] Voller Optimismus vertraute ich jedenfalls weiter dem Gefährt. 30 Kilometer später zeigte mir der Wagen an, dass ich ja vielleicht mal eine Tankstelle aufsuchen könnte wenn ich denn Zeit hätte. Von Wollen war nicht die Rede, mir fehlte inzwischen Zeit. Ich rief kurz durch und erklärte, dass ich es nicht pünktlich schaffen würde, doch mein Kollege meinte, dass der Bus selbst ebenfalls ein wenig Verspätung hätte. So fuhr ich mit Sturm & Drang im Kopf, aber erzwungener Gemächlichkeit im Tank und auf dem Tacho weiter: 80 Kilometer pro Stunde, das verbrauchte nur fünf Liter, was für meinen Kompakten einen neuen Rekord darstellte.

30 km später. Nun ergaben sich zwei Probleme.

Die Tankanzeige zeigte mir an, dass ich theoretisch mit der Karre noch 0 Kilometer fahren könnte – praktisch fuhr ich allerdings trotzdem noch. Und die Uhr signalisierte mir, dass ich besser schneller fahren sollte, wenn ich den Treffpunkt noch rechtzeitig erreichen wollte.

Beides im Blick, aber größeres Interesse an der Tanknadel, war mir jetzt jede Tanke recht, selbst wenn der Liter 2 Euro kosten sollte, Hauptsache nicht auf der Autobahn liegen bleiben! Dummerweise kam nach Frankfurt erstmal keine Tanke mehr, das war Pech. Ich (nichtgläubig) begann, die Tanknadel anzubeten und hoffte, dass ich es irgendwie schaffen würde – was allerdings, das weiß ich inzwischen auch nicht mehr so ganz.

Schalke Musik aus, es war wichtiger, dass ich den Motor hören konnte.

Es war inzwischen weit nach Mitternacht, neben LKW-Fahrern schlich ich weiter auf der rechten Spur über die Bahn. Die Hoffnung, rechtzeitig anzukommen und nicht liegen zu bleiben, hatte ich noch immer nicht aufgegeben. Und tatsächlich: Da, da war es, das Schild, der gesuchte Ort, wo am Rastplatz der Zustieg erfolgen sollte. Ich glaubte, es war machbar, auch im persönlichen Spritsparmodus, denn ich war nur noch wenige Kilometer entfernt. So, endlich das gelbe Ortsschild passiert, der Motor gluckerte unüberhörbar, er wollte wohl tatsächlich Treibstoff, Schweiß auf der Stirn, im Innenraum allerdings eine angenehme Temperatur.

Mein Kollege rief an, sie wären jetzt am Treffpunkt.

Ich hatte inzwischen im 100 Einwohnerdorf jede Straße passiert und jedes Schild verschlungen und seufzte voller Verzweiflung nur noch in den Hörer: „Ich bin auch da, aber ich finde den Rastplatz einfach nicht!“. Mein Kollege schien jetzt auch verzweifelt und enttäuscht zu sein, er verstand das alles nicht und wollte jetzt auflegen, tat er dann auch, denn die Anderen wurden ungeduldig und wollten nun auch weiter fahren.

Der Motor war aus. Ich schaute auf den kleinen Wohnblock im winzigen Kuhdorf und mir wurde bewusst: Das ist ein Bingooo, denn die genannte Ausfahrt, das war nicht ein Autohof, den man leicht von überall anfahren konnte, es handelte sich um einen normalen kleinen Rastplatz auf der gegenüber liegenden Seite der Autobahn. Mit einem alten Navi („keine Rastplätze“), und einem alten mobilen Telefon längst vergangener Tage, dazu meiner Zuversicht, dass es sich doch ganz bestimmt um einen Autohof („der von Bundesstraße und Autobahn leicht anzufahren ist“) handeln würde – kam ich nicht weit.

Ich stand irgendwo am Arsch der Welt nähe Wiesbaden und war zu müde, um jetzt noch dem Bus hinterher Richtung Italien zu fahren und irgendwann zuzusteigen.

Ich gab auf, das war das Ende.

Ab nach Hause … mit dem letzten Tropfen fand ich eine Tankstelle und diesmal tankte ich mit mehr Weitsicht und kein E10 – mir fielen auf der Rückfahrt immer wieder die Augen zu, ich hatte Tagträume, sah Gesichter in den roten Rückleuchten des vor mir fahrenden Lastkraftwagens und hatte Angst, an der Leitplanke kleben zu bleiben und das Spiel heute Abend letztlich nur von oben aus sehen zu können. Trotzdem schaffte ich es unversehrt, gefühlt allerdings wie ein getretener Hund, bis nach Hause nach Fulda – der Depp des Tages war sicherlich ich.

Am nächsten Tag nahm ich mir schulfrei, das hatte ich ja ohnehin vor. Ich kam um 6 Uhr Morgens zu Hause an und brauchte Schlaf. Mittags machte ich mir wie schon auf der Rückfahrt meine Gedanken und zwar darüber, wie man so verplant sein kann.

Das Spiel wurde auf Sat.1 übertragen. Neben einem Glas Cuba Libre schaute ich mit einem Kumpel das Spiel, guckte in die königsblaue Kurve und stellte mir vor, wie es dort jetzt wäre. Wolff-Christoph Fuss entzückte mich mit seinen geilen Kommentaren „Give me Five, Edu!, „Schalke zieht blank“, und nachdem dieses Schalker Jahrhundertspiel vorbei war, sagte ich mir, dass dies mit mir im Stadion ja wahrscheinlich so nicht gekommen wäre…
Dabei wusste ich ganz genau, das Ergebnis stand, mit oder ohne mich, und da stand es eben schwarz auf weiß: 2 zu 5.

Der Busfahrer, der meine Eintrittskarte bekommen hatte, wird mir dafür wahrscheinlich auf ewig dankbar sein.

Nach dem Spiel fing ich an zu bereuen, dass ich nicht einfach weiter gefahren war, und wenn ich den ganzen Weg alleine im Auto hätte bewältigen müssen, und wenn ich zwei Stunden Pause in jenem Dorf gemacht und dann weiter gefahren wäre, aber sicherlich wäre jedes persönliche Opfer diesem Wahnsinns-Spiel gerecht geworden.
Gut, dachte ich mir, dass nur ein einziger Schulkollege weiß, warum ich am Dienstag nicht in der Schule war – so kann ich versuchen, schnell damit abzuschließen, auch wenn es mir schwer fiel.

Dieser Schulkollege – ich hätte es wissen müssen – konnte es allerdings leider nicht für sich behalten und so gratulierte mir am nächsten Tag jeder zu dem Aufenthalt in Italien und dem grandiosen Sieg der Blauen.
Das Salz tropfte nur so in alle meine königsblauen Wunden…


„1904 Geschichten“.
Die Bitte geht an Alle: wenn ihr etwas habt aus über 100 königsblauen Jahren, etwas Wahres und/oder Interessantes über Schalke, das ihr teilen wollt, Erlebnisse die erinnernswert sind oder ganz einfach Schilderungen, wie es war, wie man sich Eintrittskarten besorgte, wo in der Glückaufkampfbahn, dem Parkstadion oder der Arena man „daheim“ war, wie man dahin kam und wie es da zuging, oder was auch immer vielleicht jemand, der Schalke nur vom Fernsehen oder aus der Zeitung kennt, nie oder niemals wirklich wissen kann – aber vielleicht sollte – schickt mir (matthias.berghoefer[at]web.de) einfach eure Texte, Dreizeiler oder halbe Romane und egal wie’s mit Rechtschreibung aussieht. Klar erkennbar muss sein, ob es sich um eine wahre Geschichte handelt oder um einen Prosatext, also einen konstruierten, erfundenen, der etwas Bestimmtes ausdrücken will in Bezug auf den FC Schalke 04.
Wichtig ist natürlich auch, dass ihr kein Problem damit habt, dass euer Text hier, und vielleicht auch irgendwann mal in einem Buch, veröffentlicht wird – natürlich unter eurem Namen, oder einem „Pseudonym“ falls euch das aus irgendeinem Grund lieber ist.
1904 Geschichten sind eine Menge Holz. Ich bin mal gespannt.

Eine Antwort zu “Das schönste Spiel

  1. Also Flieger verpasst haben wir ja auch schon – aber das war letztlich alternativlos.
    Ich denke, mich hätte das Adrenalin zwingend wach gehalten und ich hätte den Bus irgendwie erreicht aber das ist aus der Distanz leicht gesagt.

    Jedenfalls eine unvergessliche Geschichte für Dich und das macht uns Königsblaue aus!

    Glückauf, Enatz

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..