Am Ende stand eine Lüge

„Oberschuir“ hat ganz vage Erinnerungen an ein Spiel in der Glückaufkampfbahn im Jahre 1941, das womöglich den Anfangspunkt seiner unzähligen Besuche von Schalker Spielen darstellt.

Diesmal handelt seine Geschichte vom Revierderby und seinem Klassenzimmer, durch das mittendurch die Grenze zwischen BlauWeiß und SchwatzGelb lief.


Tatort Klassenzimmer, irgendwo in Herne, irgendwann im Jahre 1992. Nein, nicht irgendwann, sondern am 18. Mai 1992, einem Montag, zwei Tage nach dem Ende der Bundesligasaison. Mitwirkende: Ungefähr 30 Schüler, davon die eine Hälfte sehr aufgeräumter Stimmung, die andere Hälfte blass und niedergeschlagen. Vorne: Der Lehrer, ich. Die Stimmung war angekratzt, sie konnte explodieren, und ich musste die schnelle Lösung finde.

Alles begann, wie so häufig im Leben, fast genau neun Monate früher, am 24. August des Vorjahres, einem Samstag. Hätte es diesen Tag nicht gegeben, wäre alles anders ausgegangen. Vielleicht. An diesem Tag, dem fünften Spieltag, empfingen wir die Borussen aus Dortmund. Die Karten waren vorher klar verteilt. Wir, der Aufsteiger und damaliger Tabellensiebzehnter, waren klarer Außenseiter gegen die Dortmunder mit ihrem Trainer Hitzfeld, mit Mill, mit Chapuisat. Wir wollten den abermaligen Abstieg verhindern, die Dortmunder hatten die deutsche Meisterschaft anvisiert, der sie bereits ein Jahr länger als wir hinterherhechelten.

Es war nicht so, dass wir Angst vor denen hatten. Spieler wie Christensen, Mihajlovic, Jens Lehmann, Anderbrügge, Borodjuk, unser Brasilianer Günter Schlipper und die Ost-Importe Herzog und Freund konnten sich durchaus sehen lassen. Dennoch, die Zweitligajahre steckten uns immer noch in den Knochen, und gegen Dortmund brauchten wir unbedingt ein gutes Ergebnis, um nicht im Tabellenkeller stecken zu bleiben. Dass das Parkstadion ausverkauft war, bedarf eigentlich keiner Erwähnung. Über 70.000 Zuschauer zitterten dem Spiel entgegen, und es wurde hochdramatisch. Die Führung durch Anderbrügge glichen die Dortmunder noch während der ersten Halbzeit aus. Entschieden war also noch nichts, aber wohl war uns nicht in unserer Haut. In dieser Situation eine Niederlage, und dann noch gegen die, diesen Gedanken wollten wir nicht zu Ende denken. Die zweite Halbzeit begann, und zu unserer Freude bestimmten nicht die Dortmunder, sondern wir das Spiel. Wir überschlugen uns vor Freude, als Güttler per Elfer und Luginger mit einem wunderschönen Treffer von der Strafraumecke aus bis zur Mitte der zweiten Halbzeit auf 3:1 erhöhten. Der erhoffte, aber nicht erwartete Sieg war greifbar, bis sich die Ereignisse in den letzten vier Minuten überschlugen. Chapuisat schaffte den Anschlusstreffer. Unsere Mannschaft wankte, schlug aber zurück. Zwei Tore in den letzten beiden Minuten, und es stand 5:2 für uns. Schlipper zeigte mit einem tollen Sololauf, dass er nicht zu Unrecht als Brasilianer bezeichnet wurde, und Sendscheid machte mit einem Abstauber alles klar.

5:2! So stand es auch fast neun Monate später, am 16. Mai 1992, und zwar auf einem Bettlaken, nichts weiter, nur diese Zahlen mit dem Doppelpunkt dazwischen. Das alleine wäre noch nicht besonders erwähnenswert, wenn nicht dieses Bettlaken auf dem Emscherschnellweg zwischen den Anschlußstellen Gelsenkirchen-Schalke und Gelsenkirchen-Hessler von einer Fußgängerbrücke heruntergeflattert hätte. Auch das verdiente nicht unbedingt große Aufmerksamkeit, wenn nicht wiederum Tausende von Borussenfans, vielleicht sogar deren Mannschaftsbus, mit Fahrzeugen aller Art unter dieser Brücke hergefahren wären mit dem Duisburger Wedaustadion als Ziel, wo sie versuchen wollten, den punktgleichen Tabellenführer, den VfB Stuttgart, noch abzufangen. Die Tordifferenz der Stuttgarter war deutlich besser, so dass eine Aufholjagd nach Toren ausgeschlossen war. Die Borussen mussten ganz einfach „nur“ gewinnen, was jedoch nicht leicht werden sollte, weil dem MSV der Abstieg drohte, und sie mussten gleichzeitig auf einen Punktverlust der Stuttgarter in Leverkusen hoffen. Das war die Ausgangssituation an jenem Samstag.

Ach ja, uns Schalker gab’s ja auch noch. Wir waren vom Torverhältnis her gesichert und spielten vor über 60.000 Zuschauern gegen Kaiserslautern, wobei unser Augenmerk weniger auf das Spielfeld, sondern eher auf die Anzeigetafel gerichtet war. Dort verfolgten wir den Zweikampf um die deutsche Meisterschaft. Es lief gut für die Dortmunder. Sie gingen früh in Führung, Leverkusen zog ein paar Minuten später nach. Dortmund lag also mit zwei Punkten Vorsprung vorne, ihnen winkte die deutsche Meisterschaft. Unser 1:0 durch Egon Flad fand im Stadion nur wenig Beachtung. Kurz vor dem Halbzeitpfiff gab es erneut Torjubel im Parkstadion. Das 1:1 war gefallen. Nicht, dass Ihr jetzt meint, wir hätten den Ausgleich der Lauterer bejubelt, nein, die Stuttgarter hatten ausgeglichen. Sie rückten also wieder um einen Punkt näher an Dortmund heran. Aber die lagen im Kampf um die Meisterschaft immer noch vorne. Irgendwann im Laufe der zweiten Halbzeit heiterte sich die eher gedämpfte Stimmung im Parkstadion auf, nur ein ganz klein wenig, als Mihajlovic mit seinem 2:0 alles klar machte. Aber was war mit der Anzeigetafel? Hatte sie schlapp gemacht? Nichts tat sich, weder in Duisburg noch in Leverkusen. Aber schon seit der Erfindung des Radios gab es immer Leute, die ihr Kofferradio mit ins Stadion brachten. Und an jenem schönen Maisamstag war es wohl so, dass sie konzentriert im Block 7, also in der Nordkurve standen. Dort begann nämlich, es muss fast gleichzeitig mit dem Schlußpfiff bei uns gewesen sein, eine Woge der Begeisterung, sie setzte sich langsam, dann immer schneller in Bewegung, bis sie das ganze Stadion erfasste. Die Zuschauer fielen sich vor Begeisterung in die Arme, und dieser Begeisterung konnte und wollte ich, der ich eigentlich kein Bewegungstalent bin, nicht ausweichen. Ich tanzte, wir tanzten, alle tanzten. Was war geschehen: Irgendein Stuttgarter hatte das 2:1 für den VfB erzielt, und damit waren sie, neutral ausgedrückt, deutscher Meister. Positiv ausgedrückt bedeutete das: Borussia Dortmund war nicht Meister.

Aber was hat das mit meiner Geschichte zu tun? Thema verfehlt? Tatort war, wie erwähnt, ein Klassenzimmer, ein Klassenzimmer in Herne. Kenner sagen, Herne sei eine zweigeteilte Stadt. Durch sie verliefe eine Grenze, auf der einen Seite wohnten die Schalker, auf der anderen Seite die Dortmunder. Und diese Grenzlinie verlief damals, am 18. Mai 1992, an diesem Montag nach Ablauf der Bundesligasaison, genau durch unser Klassenzimmer. Die Aufgeräumten, das waren die Schalker, die Blassen und Niedergeschlagenen die Dortmunder. Und der Lehrer stand vorne: Ich.

Es war eine nette Klasse, und Ihr müsst mir glauben, die Blauweißen schnitten bei mir nicht besser ab als die Schwarzgelben. Nach jeder Klassenarbeit fertigte ich in meinem Kopf einen Klassenspiegel der besonderen Art an: Wie war die Notenverteilung unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Trikots? War sie gerecht? Ich achtete genau darauf, dass auch die weniger schönen Farben zu ihrem Recht kam. Ja, aber an diesem Montag, zu Beginn des Unterrichts, um 7.30 Uhr, war guter Rat teuer. Ich, der Tänzer vom Samstag, hatte ein total schlechtes Gewissen, die Blassen taten mir leid, sie hatten es ja ohnehin schon schwer genug im Leben, so als Borussenfans. Die Aufgeräumten erfassten die Stimmung und nahmen sich zurück. Ich fasste einen schnellen Entschluss und schilderte die Stimmung, die zwei Tage vorher im Parkstadion herrschte. Bei der Entscheidung kurz vor dem Schlusspfiff hätte im Publikum große Betroffenheit geherrscht, es sei mucksmäuschenstill gewesen, wir alle hätten die sportliche Tragik erkannt. Anscheinend hatte ich genau die richtigen Worte gefunden, die Schalker in der Klasse grinsten nicht einmal, und ich stellte zufrieden, aber auch schamvoll fest, dass ich wohl gut gelogen hatte. Die Dortmunder glaubten mir, zumindest in dem Moment.

Damals war mir klar, dass eine Notlüge auch viel Gutes bewirken kann. Aber jetzt, beim Schreiben dieser Geschichte, kommen Bedenken in mir auf. Wie sah es in meinen Dortmundern, und das schreibe ich ganz bewusst so, aus, als sie die Wahrheit erfuhren? Sind sie an dem besagten Samstag auch unter dem Bettlaken hergefahren? Waren vielleicht sie es, die im Jahre 2007 das Flugzeug zu uns herübergeschickt haben? Fragen, die kaum noch geklärt werden können, es sei denn, bei irgendeinem Klassentreffen, das dann aber wohl, bei meinem Alter, im Jenseits stattfinden müsste. Aber wo? Findet es dann in Anbetracht unserer Schalker und Dortmunder Sünden an einem Ort statt, an dem es wieder so heiß hergeht?


„1904 Geschichten“.
Die Bitte geht an Alle: wenn ihr etwas habt aus über 100 königsblauen Jahren, etwas Wahres und/oder Interessantes über Schalke, das ihr teilen wollt, Erlebnisse die erinnernswert sind oder ganz einfach Schilderungen, wie es war, wie man sich Eintrittskarten besorgte, wo in der Glückaufkampfbahn, dem Parkstadion oder der Arena man „daheim“ war, wie man dahin kam und wie es da zuging, oder was auch immer vielleicht jemand, der Schalke nur vom Fernsehen oder aus der Zeitung kennt, nie oder niemals wirklich wissen kann – aber vielleicht sollte – schickt mir (matthias.berghoefer[at]web.de) einfach eure Texte, Dreizeiler oder halbe Romane und egal wie’s mit Rechtschreibung aussieht. Klar erkennbar muss sein, ob es sich um eine wahre Geschichte handelt oder um einen Prosatext, also einen konstruierten, erfundenen, der etwas Bestimmtes ausdrücken will in Bezug auf den FC Schalke 04.
Wichtig ist natürlich auch, dass ihr kein Problem damit habt, dass euer Text hier, und vielleicht auch irgendwann mal in einem Buch, veröffentlicht wird – natürlich unter eurem Namen, oder einem „Pseudonym“ falls euch das aus irgendeinem Grund lieber ist.
1904 Geschichten sind eine Menge Holz. Ich bin mal gespannt.

5 Antworten zu “Am Ende stand eine Lüge

  1. Besonnen, kurzweilig und voller Verständnis trotz blau-weißer Seele; genauso wie man Oberschuir auch aus Schalkeforen im Internet kennt. Passt zu ihm und gefällt mir gut.

  2. Tolle Story!
    Ein weiser „Pauker“, der sich auch in seine „schwarzen Schäfchen“ ;-))) hineinversetzen konnte, was will man mehr?!?!?

    Glückauf, Enatz

  3. Wirklich schönes Geschichte!

    Als kleiner pingeliger Hinweis sei aber erwähnt, dass vor dem letzten Spieltag der Saison 91/92 nicht der VfB Stuttgart Tabellenführer war, sondern Eintracht Frankfurt. Bei einem Sieg der Eintracht hätten weder Stuttgart, noch der BVB an den Hessen vorbeiziehen können. Da Frankfurt aber in einem legendären Spiel 2:1 bei Hansa Rostock verlor, machten Stuttgart und die Zecken die Meisterschaft unter sich aus. Schön, dass es am Ende nicht zur schwarz-gelben Meisterschaft reichte 🙂

  4. Respekt, Respekt.

  5. Da war Marcel nun schneller als ich. Aber sonst kann ich mich den Vor- Kommentatoren nur anschließen: Eine tolle Geschichte um eine tolle Geschichte. Wenn ich irgenwann mal selber eine Fußballgeschichte aufschreibe, wird es die um die 92er Meisterschaft sein.
    Ich fürchte allerdings, sie wird nicht annähernd blau-weiß genug sein, um eine von 1904 sein zu können.

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