Am Goldnen Hochzeitstage (Teil 4)

Walter Schauer lebt in München, hat aber trotzdem eine Dauerkarte für die Arena auf Schalke. Fürs Parkstadion brauchte er keine, „da war ja meistens Platz genuch“, sagt er.

…der letzte Teil des Abenteuers, das im Jahr 1903 begann – die Zeitreise führt diesmal zum Pokalendspiel 1969.

Einst die fixe Idee eines halbwüchsigen Schlosserlehrlings, heute DER GEILSTE CLUB DER WELT – FC SCHALKE 04

„Am Goldn’en Hochzeitstage wurd‘ Omma fast verrückt
Als Oppa still und heimlich zum Endspiel sich verdrückt….“

14. Juni 1969

Leise fällt die Wohnungstür ins Schloss. Und so leise wie es ihm möglich ist, geht er die Treppenstufen hinunter, seine Schuhe noch in der Hand. Die Treppe knarzt ein bisschen. ‚Lieber Gott, mach datt die olle Raab nich schon wach is.‘ betet er innerlich.

Um seine Rosemarie macht er sich weniger Sorgen. Die schläft tief und fest. Aber die Nachbarin ist jeden Morgen schon früh auf und steckt ihre Nase immer in alle möglichen Angelegenheiten. Und wenn sie ihn sieht, wird sie ihm freudestrahlend gratulieren. Aber darauf legt er überhaupt keinen Wert. Auf das ganze andere Tamtam auch nicht, mit Bürgermeister und dergleichen. ‚Die solln ma schön alleine feiern.‘, denkt er sich. Ist der Bürgermeister überhaupt da? Oder ist der wohl auch in Frankfurt. Dann schicken die den zweiten oder den dritten. Oder irgendeinen, den se noch haben. Der kein Schalker is. ‚Wenn ich nochma heirate, dann sicher nich im Juni.‘

Inzwischen ist der betagte Herr im Erdgeschoß angekommen und hat schon die Haustürklinke in der Hand, da hört er hinter sich, aus Richtung Keller kommend, eine krächzende Stimme. „Ach, Herr Pritschikowski!“

Da isse schon. Die olle Raab. Der Name ist bei dieser Frau Programm. Ständig läuft sie in einer ihrer Kittelschürzen rum und hat ein Tuch auf dem Kopf. Jetzt hält sie grad eine Kehrschaufel und einen kleinen Besen in ihren Händen. Sie muss ungefähr so alt sein wie er selber, vielleicht sogar ein bisschen jünger. Aber er hat sie nie danach gefragt. Denn erstens fragt man eine Dame nicht nach ihrem Alter. Auch nicht die olle Raab. Und zweitens hat es ihn gar nicht interessiert.

„Alles, alles Gute.“
„Jau, danke! Iss gut.“ Flehentlich hebt er den Kopf und blickt nach oben. Zu seiner Wohnung.
„Wieso hamse denn die Schuhe noch inner Hand?“
Er führt den Zeigefinger zum Mund und bewegt sich auf seine Nachbarin zu. „Meine Frau schläft noch.“ flüstert er.
„Wollnse ihr sicher Blumen holen geh’n, woll? Ach, iss datt aber nett. Da wird se sich aber freuen.“
„Ja! Genau!“

Die Lautstärke der Nachbarin ist zwar schon etwas gedämpfter. Aber noch ist er nicht ganz zufrieden. Das gibt er ihr mittels Zeichensprache zu verstehen. „Dann bis nachher.“, flüstert die Alte und bewegt sich in Richtung ihrer Wohnung im Erdgeschoß. Tadeus Pritischikowski läßt sich mühsam auf die Treppe sinken und bindet sich die Schuhe zu. „Soll ich ihnen helfen?“ Schon wieder die krächzende Stimme hinter ihm. „Ne!“ winkt er ab. ‚Datt fehlte noch.‘ Endlich hört er hinter sich die Tür ins Schloß fallen. Er ist grade fertig mit Schuhe binden und richtet sich ebenso mühsam, am Treppengeländer festhaltend, wieder auf. Dann geht er hinaus auf die Uechtingstraße, hinunter zur Straßenbahn. Seinen Schal hat er oben vergessen, fällt ihm an der Haltestelle gegenüber von Kuzorras Laden ein. Aber er kann nicht mehr zurück. Um diese Jahreszeit braucht er ja eigentlich auch keinen Schal. Aber er hätte ihn irgendwo in die Jackentasche gesteckt. Wenn Schalke nun verliert… ‚Langsam werd‘ ich doch tüddelich.‘

Er weiß gar nicht mehr wie lange das schon her ist. Vier, fünf Jahre bestimmt, seit Rosemarie ihm den selbstgestrickten Schal zu Weihnachten geschenkt hat. Marineblau nicht königsblau, aber sie hat sich das ja in all den Jahrzehnten nicht merken können und hat es gut gemeint. Jedenfalls hatten die Knappen gleich das erste Heimspiel danach gewonnen und das nächste, bei dem Tadeus den Schal nicht mitgenommen hatte, hatten sie verloren. Seitdem ist der Schal immer dabei. Früher, als Kind, hatte er es gehasst, wenn seine Mutter ihm den Schal immer hinterher trug. Aber der war damals auch gelb gewesen und hatte furchtbar gekratzt.

Kurz ist er versucht, wieder zurück zu gehen. Denn heute ist ein besonders wichtiges Spiel für Schalke. Ein Pokalfinale. Erst einmal haben die Königsblauen ein Pokalfinale gewonnen und das ist über dreißig Jahre her. Danach sind sie immer wieder gescheitert. Fünf mal bis heute. Wenn sie nun heute wieder nicht…

Aber da kommt bereits die Straßenbahn. Es muss ohne den Schal gehen. Irgendwie müssen sie gegen die Seppls gewinnen. Schließlich will er nicht mit leeren Händen aus Frankfurt zurückkommen. ‚Die Gardinenpredigt wird so schon schlimm genuch.‘ Aus Richtung der Glückauf-Kampfbahn kommen ein paar Jugendliche gelaufen, die die Straßenbahn noch erreichen wollen. Der eine trägt eine riesengroße blau-weiße Fahne, der andere bläst in eine Tröte und dann rufen sie alle gemeinsam im Chor.

„LI-BU-DA ! LI-BU-DA!“

Und die Miene des Alten hellt sich auf….

Die selbe beschwerliche Reise mit der Bahn wie vor acht Tagen.
Da hatten sie bei der Eintracht gespielt. 0:1 verloren. Am Saisonende ist das jetzt nur der 7. Platz. Zwar nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass sie die Saison davor beinahe abgestiegen wären. Aber mit ein bisschen mehr Glück hätten sie jetzt auch Vizemeister werden können. Verrückte Bundesliga. Nürnberg, der Meister des Vorjahres ist dieses Mal abgestiegen. Einfach komplett verrückt. Dieses Mal sind die Seppls Meister geworden. Zum zweiten Mal in ihrer Vereinsgeschichte.

‚Das erste Mal war…‘ Tadeus Pritschikowski erinnert sich nicht mehr so genau. ‚War das im Jahr als wir gegen die Fortuna spielten? Dieses legendäre Spiel. Oder das Jahr darauf?‘ So viele Jahre. So viele Spiele. ‚Ach ja! Natürlich! Wir waren doch im Halbfinale. Damals auch schon gegen die Eintracht. Irgendwann Ende Mai 1932. Also nicht im Jahr unserer Sperre. Alle haben wir damals schon mit einem Finale gegen Nürnberg spekuliert. Und dann sind die beiden Judenclubs ins Finale gekommen…‘
‚Die beiden Judenclubs. Mein Gott!‘
So hat man den FC Bayern München und Eintracht Frankfurt damals genannt. Und nicht nur die…

Der alte Mann will sich an die Zeit, die danach kam, gar nicht mehr erinnern. Er selbst ist Katholik. Wie es seine Eltern und seine Vorfahren auch schon waren. Gebürtige Polen. Keine protestantischen Masuren, wie die Vorfahren von Szepan und Kuzorra.

„Gemmich‘ wech mittie Polacken.“, soll der Clemens einmal gesagt haben. Es versetzt dem alten Tadeus noch heute einen Stich ins Herz. Er kann das gar nicht glauben. Heute sieht er ihn natürlich jeden Tag, wenn er in seinem Zigarrenladen seine Zeitung holt oder Lotto spielt und sie sind freundlich miteinander. Wobei Clemens ganz allgemein bisweilen einer knorrigen Eiche gleicht im Umgang. Tadeus wohnt gewissermaßen gleich über die Straße. Das Stück die Uechtingstraße rein, die an die Kurt-Schumacher-Straße grenzt, wo Kuzorra seinen Laden hat, die früher die Kaiserstraße war und danach eine Zeitlang den Namen des „Gröfaz“ trug, des „Größten Feldherrn aller Zeiten“.

Damals, nach dem Januar 1933, hat er kein einziges der glorreichen Spiele des Schwägerpaars gesehen. Kein einziges. Nicht das 2:1 gegen Nürnberg, nicht das 6:4 gegen Stuttgart, nicht das 9:0 gegen Admira Wien. Kein einziges. Er war in seinem vierzehnten Ehejahr mit Rosemarie und den Kindern nach Friedenshütte gezogen. In die für ihn völlig fremde Heimat seiner Vorfahren. Und er hatte seinen Namen wieder so geschrieben, wie er bis zum Ableben seines Vaters an dessen Bäckerladen in der Hauergasse gestanden hatte, Prczykowsky.

Und wenn Schalke in Berlin spielte oder sonstwo in einem Finale, hatte er mit zittrigen Händen die Knöpfe an seinem Rundfunk-Empfänger gedreht und geweint. Bitterlich geweint….

“LI-BU-DA! LI-BU-DA!”

Die Rufe und laute Rockmusik wecken den Alten. Er blickt auf seine Taschenuhr, die schon sein Großvater an der Kette getragen hat, ein altes Familienerbstück also, und stellt fest, dass er ungefähr eine Stunde geschlafen hat. Der Zug bewegt sich gerade irgendwo auf freiem Feld. Noch etwa zweieinhalb Stunden bis Frankfurt.

Von draußen scheint hell die Sonne in sein Abteil. Es wird heute sicher ein heißer Tag. Tadeus steht auf und zieht seine Jacke aus und hängt sie an den Haken. Das Fenster zu öffnen, traut er sich nicht. Bei dem Fahrtwind könnte er sich erkälten. In seinem Alter ist mit einer Lungenentzündung schließlich nicht zu spaßen. In einem der Abteile nebenan sitzen die jugendlichen Schalker und haben ihr Radio laut aufgedreht. Ihre große blau-weiße Fahne hat wohl keinen Platz im Abteil. Sie liegt zusammengerollt der Länge nach auf dem Boden des Ganges.

Der Alte ist versucht nach nebenan zu gehen, um die Jugendlichen zu bitten, das Radio etwas leiser zu machen. Da hört er schon die Stimme des Schaffners. Und setzt sich wieder. “Fahrkarten, bitte. Die Fahrkarten. Wos is denn des hier für ä Lärm.” Der Schaffner spricht hessischen Dialekt. Tadeus fällt ein, daß er die Fahrkarte noch in seiner Jacke hat und er steht wieder auf. Beim Herausziehen der Brieftasche fällt ihm unbemerkt ein Stück gelb-roter Stoff auf den Boden.

“Und was is des hier für a Saustall. Du amol die Füss nunner, junger Mann. Bist doch ned dahem.”
“Geht klar, Chef.”

Die Musik wird leiser gedreht. Tadeus hört das Klicken der Zwickzange. Dann kommt der Schaffner zu seinem Abteil. Er sieht aus, wie Tadeus ihn sich schon von der Stimme her vorgestellt hat. Er hat Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Joseph Offenbach, der in der Fernsehserie “Die Unverbesserlichen” den Familienvater “Kurt Scholz” spielt. Vor drei, vier Wochen war erst wieder eine neue Folge ausgestrahlt worden.

Einer der Jugendlichen intoniert nebenan das Vereinslied und die anderen stimmen mit ein.
“Blau und Weiß, wie lieb ich Dich…”
“Einen Radau machen die Brüder…”, meint der Schaffner als Tadeus ihm seine Fahrkarte gibt.
“Blau und Weiß verlass mich nicht…”
“Dabei gewinne die bleeden Schalker doch heut sowieso ned. Der Müller macht minnestens zwei Tore. Minnestens.” Wieder das Klicken der Zwickzange.
‚Arschloch!‘, denkt Tadeus, während nebenan gerade “alle jungen und schönen Mädchen blau und weiß spazieren gehen.”

“Sie hawwe da was verlore.”. Der Schaffner bückt sich und gibt Tadeus das Stück Stoff und die Fahrkarte. “Hier, Ihr Taschentuch. Die Schalker hawwe doch kan un‘ mit dem Libbudda is doch a nix mehr los”

Nebenan wird der Prophet Mohamed besungen und Tadeus säubert das Stück Stoff vom Staub des Bodens und von den Berührungen des Ungläubigen. “Mer hawwes ja letzte Woch gesche die Eintracht wieder gsehn.” In Tadeus staut sich Groll auf. Am liebsten würde er… Aber in seiner Jugend hat man ihm tiefen Respekt vor Uniformen beigebracht. Das war seinerzeit so. Dieser Respekt war so tief im Volk verwurzelt, dass ein Schustergeselle sich eine Hauptmannsuniform anzog, um sich im Rathaus Köpenick einen Reisepass zu ergaunern. Das ganze Deutsche Reich hatte über die “Köpenickiade” gelacht. Sogar seine Majestät, der Kaiser, soll sich der Sage nach herzhaft amüsiert haben. ‚Damals bin ich zehn oder elf gewesen.‘ denkt der Alte, der vor seinem geistigen Auge Heinz Rühmann in der Rolle des Schusters Wilhelm Voigt sieht.

Er fällt in den Gesang der Jugendlichen ein. “Tausend Feuer in der Nacht haben uns das große Glück gebracht.” Der Schaffner tippt sich an die Stirn und entfernt sich. Tadeus folgt ihm auf den Gang und singt weiter. “Tausend Freunde, die zusammen stehen, zusammen stehen, dann wird der FC Schalke niemals untergehen.”

Der Gesang wird im anderen Abteil lauter und Tadeus singt den selben Text noch einmal mit voller Inbrunst. “Tausend Freunde, die zusammen stehen, zusammen stehen, dann wird der FC Schaaalke niiiiemals untergehen.” Dann nickt er freundlich lächelnd den Jugendlichen zu, die ihm mit ihren Flaschen und Dosen zuprosten und geht zufrieden zurück in sein Abteil.

Sein Blick fällt wieder auf das gelb-rote Stück Stoff in seiner Hand. Er schaut auf die große blau-weiße Fahne auf dem Gang und wieder auf das Stück Stoff. ‚65 Jahre iss datt Dingen alt. So alt wie unserer Verein.‘ All die Jahrzehnte hatte er es bewahrt, das gelb-rote Fähnlein, das er als kleiner Junge auf der Goorwiese geschwenkt hatte. Als die Westfalia aus Schalke ihr erstes Spiel machte….

Er hatte sie belauscht. Damals am 4. Mai 1904, an einem Mittwoch, als die Jungens im Elternhaus vom Heinrich Kullmann ihre Pläne schmiedeten. In der Hauergasse, unweit von der Bäckerei seines Vaters. ‚Endlich gründet der Willy seinen Verein.‘, hatte er sich gefreut. Und er hätte Purzelbäume schlagen können vor lauter Freude. Wenn er nicht so unsportlich gewesen wäre. Das war immer das Problem gewesen. Nicht nur, dass er für die anderen viel zu jung war. Nein, er war auch noch viel zu dick für sein Alter und für seine Körpergröße. Das einzige, verhätschelte und gemästete Kind eines Bäckermeisters. Der wunderbare Kuchen und Torten backen konnte.

Seine Mutter hatte zunächst keine weiteren Kinder bekommen. Erst mit bald sieben Jahren bekam der kleine Taddel ein Schwesterchen. Über eins ihrer Spielzeuge, das zuvor seins war, war er an jenem Ersten Weihnachtsfeiertag 1903 gestolpert. Aber das Schwesterchen war immer krank gewesen und oft nur in seinem Bettchen gelegen. Mit zwei Jahren oder so war es dann gestorben. Und Taddel blieb das einzige Kind.

Die beiden Weltkriege haben Tadeus so rank und schlank gemacht, wie er es heute ist. Man sollte annehmen, dass ein Weltkrieg für ein Menschenleben genug wäre. Aber er hat zwei erlebt. Und überlebt. Wie, das kann er heute selbst nicht genau sagen.

Willy hatte auf die Farben gelb und rot bestanden. Unbedingt gelb und rot. „Wegen die Käsköppe.“ wie es einer der Anderen ironisch ausgedrückt hatte. „Die Farben hat sonst keiner weit und breit.“, war Willy’s letztlich überzeugendes Argument. Also, bitteschön, dann eben gelb und rot. Trikots konnten sie sich zuerst sowieso keine anschaffen. Nur für das kleine Fähnchen hatte der Stoff gereicht.

Das mit dem Namen war auch so eine Sache. „Schalke“ war klar wie Kloßbrühe. „Gelsenkirchen“, dazu gehörte Schalke ungefähr seit einem Jahr, blieb außen vor. Stand überhaupt nie wirklich zur Debatte.

Irgendjemand hatte „Sportclub Glückauf Schalke“ vorgeschlagen. Den Bergmannsgruß hatte noch kein ihnen bekannter Fußballverein in seinem Namen. In Höntrop gab es nur einen Männergesangsverein, der „Glückauf 1876“ oder so ähnlich hieß. Insofern wäre dieser Name mindestens genauso originell gewesen wie die Farben. Aber weil Willy und einige Andere keine Bergleute waren, sondern Lehrlinge bei Küppersbusch, hatte Willy mit diesem Einwand den Namen abgelehnt. Es sollte „etwas Umfassenderes“ sein.

Schließlich hatten sie sich auf „Sportverein Westfalia Schalke“ geeinigt. Willy war der Vorstand, Heinrich der Kassier. So wie es heute immer noch wieder gerne erzählt oder niedergeschrieben wird.

„Am 14. Juni 1919 hab ich geheiratet, un am andern Tach bin ich aufn Platz gegangen. Da ham wa gegen Kaddernberch gespielt. Freundschaftsspiel. Knapp gewonnen. Ich mein, Eins Null. Datt war so ungefähr als wa grade wieder mit dem Turnverein fusioniert hatten. Da hießen wa noch lange nich Schalke 04. Sondern eben Turn- und Sportverein Schalke 77“

Interessiert hören die Jungen dem Alten zu. Er hat ihnen vorhin erzählt, dass heute eigentlich sein Fünfzigster Hochzeitstag ist und sie hatten sich köstlich amüsiert. Der Dicke, der so gejapst hatte, als sie die Straßenbahn an der Uechtingstraße gerade noch erreichten, war in sein Abteil gekommen und hatte Tadeus gefragt, ob er auch ein Bier wolle.

‚Warum nicht.‘

Eins konnte ja nicht schaden und so war er der Einladung gefolgt. Jetzt sitzt er also in dem anderen Abteil mit den Jungen zusammen. Sein vorheriges Abteil wurde inzwischen von einer Familie mit zwei Kindern besetzt, die auf dem Gang mit einem Ball herumtollen. Hin und wieder, wenn sie es zu bunt treiben, werden sie von den Eltern ermahnt. Der Dicke heißt eigentlich Horst, aber die Anderen sagen alle Hoss für ihn. „Ham Sie auch mitgespielt?“ fragt der Dicke den Alten.

„Ne, für die Erste tat datt bei mir nie reichen. Inner Jugend hab ich ma ‚n paar Spiele gemacht. Aber da tat ich mir damals mit Luft holen auch so schwer wie Du… wie Sie.“
„Sie können ruhig Du für mich sagen.“
Tadeus überlegt kurz. ‚Könnten zwar eigentlich alle meine Enkel sein, aber warum nich unter Schalkern.‘

„Ihr könnt auch Du für mich sagen. Ich heiße Tadeus.“ Er hält Hoss seine Bierflasche hin und sie stossen miteinander an.
„Fein!“, sagt Hoss.
„Wie ich heisse, hasse ja schon gehört. Neben Dir sitzt der Manni und hier neben mir sitzen der Ötte und der Hennes. Die zwei sind Brüder.“
„Zwillinge sogar.“, ergänzt der, der neben Hoss sitzt, „Sieht man gleich, ne.“
‚Es gibt Brüder, die sich ähnlicher sehen.‘, denkt Tadeus. ‚Vielleicht, wenn man sich den Oberlippenbart von dem Einen wegdenkt. Und die langen Haare vom Andern‘
„Wir sagen auch manchma Sonny und Cher für die Beiden. Ötte und Hennes ham ihre Eltern se getauft, weil se beim Tibulsky unner der Theke gezeucht wurdn.“

Der neben ihm sitzende, der mit dem Oberlippenbart, versetzt Hoss im Scherz mit dem Ellbogen einen Stoß in die Rippen. Wobei ihm der Stoß vielleicht ein wenig fester gerät, als beabsichtigt. „Da draußen aufm Gang beim Rauchen steht unser Jimmy, unser Eisenbieger.“, erzählt Hoss weiter, während er seine Hände auf die Rippen preßt. Die Type, den „Eisenbieger“, hat Tadeus irgendwann bestimmt schon mal wo gesehen. Vermutlich in der Glückauf-Kampfbahn oder bei Ötte Tibulsky in der Gaststätte. So Jemand fällt jedenfalls auf. An den zwei Metern Körpergröße fehlt ihm wohl nicht viel. Wenn überhaupt. Überaus kräftige Statur. Dichter Vollbart. Am Kragen und an den Ärmeln ragen seine Tätowierungen unter dem T-Shirt hervor. Seine Struwwelpeterfrisur bändigt er mit einem Stirnband. Um seinen Hals trägt er sowas wie ein Amulett.

‚Der Kettwiesel war seiner Zeit um Jahrzehnte voraus.‘, denkt Tadeus. ;Heutzutage würde der gar nicht mehr auffallen. Damals ham ihn die meisten nich so ganz für voll genommen.‘ Er überlegt sich, ob er ihnen die traurige Geschichte vom Kettwiesel erzählen soll. Aber da fangen die Jungen auf einmal wieder an zu singen. Oder auch zu grölen. Je nachdem, wie gut sie bei Stimme sind. Tadeus hat das Radio eigentlich schon längst vergessen, das die ganze Zeit weiter vor sich hingedudelt hat.

Jimmy und einer der beiden Brüder, wieder der mit dem Oberlippenbart, schaffen es, im Takt der Musik zu bleiben. Der mit den langen Haaren auch noch so einigermaßen. Die beiden Anderen, naja, nicht so ganz. Ist aber vielleicht auch nicht so ganz einfach. Vor allem, wenn man schon etwas angeheitert ist.

„Hey Stan. Watt machse denn mit die Pille am Fuß?“ Und dann lachen sie wie verrückt. „Hey hey Stan. Wat machse denn mit die Pille am Fuß?“ Wieder lachen sie. Tadeus errät, daß der Text irgendwas mit „Stan“ Libuda zu tun haben muß.

„Datt is Jimmy Hendrix, ‚Hey Joe‘.“, klärt Hoss ihn auf, als der sich einigermaßen beruhigt hat. „Wir ham uns da neulich nen neuen Text für einfallen lassen, als wa unterwegs waren.“ Diesmal ist es zur Abwechslung mal Manni, der einen Kommentar abgibt. Gerade setzt der Refrain wieder ein und Hoss singt auf Englisch mit. Die Anderen wieder den eigenen deutschen Text. „Hey, Joe, what you’re gonna do with that gun in your hand.“ „Hey, Stan. Watt machse denn mit die Pille am Fuß.“

Tadeus hat nach dem Krieg ein paar Brocken Englisch gelernt. Daran kam man ja damals quasi fast nicht vorbei. Aber er hat schon längst wieder alles vergessen. „Gan“ kommt ihm bekannt vor, hat er vielleicht schon mal gehört, und „Hend“ heißt vermutlich „Hand“. Und Stan wird also nicht „Schtann“ ausgesprochen, sondern „Stän“.

‚Man lernt immer wieder watt dazu.‘

Früher hätte es vielleicht ein paar Bier mehr für Tadeus gebraucht, um diesen Text sinnig zu finden. Heute, am Tag seiner Goldenen Hochzeit, genügt eins. Deshalb singt er mit. „Hey hey Stan. Wat machse denn mit die Pille am Fuß?“ „Bist aber auch ganz kräftig bei Stimme.“, lobt ihn Hoss. „Iss mir vorhin schon aufgefallen.“ „Hab ich von Vaddern.“, entgegnet Tadeus und lehrt seine Flasche, die er anschließend in den Bierkasten rechts von ihm stellt. Hoss deutet ihm, daß er sich ruhig noch eine zweite nehmen könne. Tadeus wehrt ab und deutet auf seinen Magen.

Sein Vater war von ähnlicher Statur gewesen wie Hoss. Er hatte immer die Brote mit diesem riesengroßen Schuber, oder wie man das nannte, aus dem Ofen geholt und dabei Opernarien gesungen. Wie Caruso. Sein Traum war es immer gewesen, mal eine Aufführung an einem der berühmten Festspielhäuser zu sehen. Von der ‚Scala‘ in Mailand hatte er besonders geschwärmt. Aber ein Bäcker polnischer Abstammung im Ruhrgebiet buk in dieser Hinsicht natürlich kleine Brötchen um die Jahrhundertwende.

„Sehr verehrte Damen und Herren. In wenigen Minuten erreichen wir Frankfurt Hauptbahnhof. Sie haben dort Anschluß an…“ Die freundliche Stimme des Zugführers reißt Tadeus aus seinen Erinnerungen. Die Anderen suchen ihre Sachen zusammen. Stellen ihre Flaschen in den Bierkasten, den Hoss offenbar tragen soll. Jimmy hebt die blau-weiße Fahne vom Boden auf, die er aber nicht gerade aufrichten kann, weil sie an der Decke anstößt.

„Nächsten Monat schon zum Mond?“ titelt eine bundesweit populäre Boulevard-Zeitung und Tadeus muss wieder an den Weihnachtstag 1903 denken, als er mit ausgebreiteten Armen zuhause durchs Wohnzimmer gelaufen war. ‚Tausend Meter weit.‘ Tadeus muß schmunzeln, wenn er sich an sein kindliches Gemüt erinnert. Aber der Willy hatte ja damals ungefähr recht gehabt mit seiner Behauptung, „30 oder 35 Meter“.‘

‚Mein Gott, der Willy. Wenn er datt heute noch alle erleben könnte, was aus unserem Verein geworden is‘

Willy Gies verstarb am 15. September 1931. Im Alter von nur 41 Jahren. Zwei Tage zuvor hatte der FC Schalke 04 in der 1. Ruhrbezirksklasse, damals die höchste Liga, um Punkte gespielt. Gegen Castrop 02 4:0 gewonnen. Am 1. Juni des selben Jahres war die Sperre abgelaufen, die wegen unzulässiger Zahlungen von der Spruchkammer des Westdeutschen Spielverbandes gegen die Schalker Spieler verhängt worden war. Und es war dieses berühmte Foto vom legendären Spiel gegen Fortuna Düsseldorf entstanden. Über 70 000 Zuschauer sollen es gewesen sein. Jedenfalls war die Glückauf-Kampfbahn hoffnungslos überfüllt und Kinder hatten sogar das Tornetz in Beschlag genommen.

Tadeus hat einen Abzug dieser Fotografie in eines seiner Sammelalben geklebt. Die er zuhause hütet wie seinen Augapfel. Zeitungsausschnitte mit Spielberichten. Einen Brief, den der junge Willy damals an Tadeus‘ Cousine Giulietta geschrieben hatte. Eine Feldpostkarte aus dem Ersten Weltkrieg, die Willy ihm nach seiner Verwundung aus dem Lazarett geschickt hatte. Und dergleichen mehr. Neben dem Foto von der Glückauf-Kampfbahn klebt das Foto vom Crystal Palace in London, vom englischen Pokalfinale 1901, das Willy damals so beeindruckt hatte….

„1904 Geschichten“.
Die Bitte geht an Alle: wenn ihr etwas habt aus über 100 königsblauen Jahren, etwas Wahres und/oder Interessantes über Schalke, das ihr teilen wollt, Erlebnisse die erinnernswert sind oder ganz einfach Schilderungen, wie es war, wie man sich Eintrittskarten besorgte, wo in der Glückaufkampfbahn, dem Parkstadion oder der Arena man „daheim“ war, wie man dahin kam und wie es da zuging, oder was auch immer vielleicht jemand, der Schalke nur vom Fernsehen oder aus der Zeitung kennt, nie oder niemals wirklich wissen kann – aber vielleicht sollte – schickt mir (matthias.berghoefer[at]web.de) einfach eure Texte, Dreizeiler oder halbe Romane und egal wie’s mit Rechtschreibung aussieht. Klar erkennbar muss sein, ob es sich um eine wahre Geschichte handelt oder um einen Prosatext, also einen konstruierten, erfundenen, der etwas Bestimmtes ausdrücken will in Bezug auf den FC Schalke 04.
Wichtig ist natürlich auch, dass ihr kein Problem damit habt, dass euer Text hier, und vielleicht auch irgendwann mal in einem Buch, veröffentlicht wird – natürlich unter eurem Namen, oder einem „Pseudonym“ falls euch das aus irgendeinem Grund lieber ist.
1904 Geschichten sind eine Menge Holz. Ich bin mal gespannt.

Eine Antwort zu “Am Goldnen Hochzeitstage (Teil 4)

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