Am Goldnen Hochzeitstage (Teil 3)

Walter Schauer lebt in München, hat aber trotzdem eine Dauerkarte für die Arena auf Schalke. Fürs Parkstadion brauchte er keine, „da war ja meistens Platz genuch“, sagt er.

…Die Zeitreise nach 1903 wird fortgesetzt, hier Teil Drei der Reihe.

Jahreswechsel 1903/04

„… dwelt a miner, fortyniner, and his daughter Clementine…“

Der Kettwiesel ist wieder am Singen. Willy hört die scheppernde Stimme schon draußen auf der Gewerkenstraße, als er sich dem „Haus Der Vier Jahreszeiten“ nähert. Und schmunzelt. Er freut sich, den Kettwiesel zu sehen. „Oh my Darling, oh my Darling, oh my Darling Clementine…“

Willy öffnet die Tür zur Gaststube. Die ist festlich geschmückt und gut besucht. In der hintersten Ecke steht noch der Weihnachtsbaum. Überall hängen Girlanden und Luftschlangen. Der Kettwiesel lehnt an der Theke und ist offenbar wieder einmal die selbsternannte Attraktion des Abends. „Willy, mein Junge“, ruft der Kettwiesel freudig aus und geht schwankend auf ihn zu. „Freu mich, Dich zu sehen. Vaddern sitzt da hinten mit dem Hilgert und mit mein Chef.“

Der Kettwiesel legt freundschaftlich den Arm um Willy’s Schulter und deutet auf einen Tisch in einer Ecke der Gaststube. Dort sitzt Willy’s Vater mit ein paar Kollegen von Consol. Der Bäckermeister Prczykowsky, bei dem der Kettwiesel tagsüber in der Backstube arbeitet, sitzt dort ebenfalls. „Und watt machst Du hier?“, wundert sich Willy, weil er den Kettwiesel eigentlich in einer anderen Gaststube, bei Dittmar in der Herzogstraße, vermutet hat. Dort hilft der Kettwiesel nämlich gewöhnlich Abends aus. „Ach.“, winkt der Kettwiesel ab. „Die sollen sich ihre Kegel heute selber aufstellen. Da sind heute die Schnösel vonne Sechsundneunziger da. Mit denen krieg ich nur wieder Kabbelei. Ich kann datt Pack nich leiden. Ich freu mich immer, wenn die den Arsch voll kriegen. So wie gegen die Holländer. Warste da?“

Willy nickt. „Hab ich Dir doch schon vor Wochen erzählt.“
„Ich konnt leider nich. Hätt ich gerne gesehen. Wir sind Schalker und Ihr nicht. Hähä. Rin datt Ding.“

Der Kettwiesel macht eine Drehung und stößt dabei versehentlich mit einem Mann zusammen, der gerade seinen Mantel vom Garderobenhaken nimmt und sich den Hut aufsetzt. Eine stattliche Erscheinung mit einem noch stattlicheren Schnurrbart. Den hat er nämlich bis hinter die Ohren gedreht. „Oh. Pardon, Majestät.“ Der Kettwiesel nimmt seine Pelzkappe ab und macht einen höflichen Diener bis fast zum Boden. Dann grinst er den Anderen frech an. „Bisse schon am Gehen, August?“
„Jau! Datt hält ja hier kein Mensch aus mitt deine Singerei.“ entgegnet der Angesprochene mit einem verschmitzten Lächeln.

„Aber ich sing doch ga nich mehr. Außerdem is heut Silvester. Jetzt pöhlen wir grad n‘ bissken.“
„Fussball! Datt au noch. Mei’m Jungen würd ich die Hammelbeine langziehen, wenn der mir damit ankäm. Die Hammelbeine.“
„Wäret Dir vielleicht lieber, wenn er boxen tut?“
„Ach! Red doch hier nich von ungelegten Eiern.“ Der Herr macht eine wegwerfende Handbewegung nimmt die Türklinke und der Kettwiesel prostet ihm mit seinem Bierglas zu. „Wiederseheh’n, August. Grüß mir Deine Karoline und die Kinder recht schön. Sind datt nu vier oder schon fünf? Ach, egal.“ Der Kettwiesel macht die selbe Handbewegung und wendet sich zur Theke. „Auf Wiedersehen, Herr Szepan.“, schließt Willy sich dem Gruß an, der die Unterhaltung zwischen den Beiden amüsiert beobachtet hat.

August Szepan stülpt sich den Kragen hoch, tippt sich an den Hut und verläßt die Gaststube. Der Kettwiesel nimmt einen tiefen Schluck aus dem Bierglas, dann fällt ihm anscheinend etwas ein. Er bricht das Trinken ab und setzt das Glas auf die Theke. „Hmm! Mensch, Willy, ich hab Dir ja watt mitgebracht. Ich habs Deinem Vadder gegeben, weil ich ja nicht wußte, datt Du heute kommst. Geh ma zu ihm hin.“ Willy wundert sich. Was, um alles in der Welt, kann ihm der Kettwiesel mitgebracht haben. Er geht zum Tisch seines Vaters, begrüßt ihn und seine Kollegen und natürlich auch den Bäckermeister und der Vater gibt ihm das Paket vom Kettwiesel. Etwas Rundes. Naja, ganz so rund wieder nicht. Während er es aufschnürt, blickt er irritiert zum Kettwiesel und geht zurück Richtung Theke. Dort angekommen, entpuppt sich der Inhalt tatsächlich als das, was Willy schon die ganze Zeit vermutet hat.

Es ist ein Ball – ein Lederball.

Jedenfalls war es das mal. Seine besseren Tage scheinen vorbei zu sein. Aber mit ein bisschen Geduld und Spucke… „Die vonner Urania wollten ihn wegtun. Da habbich gesacht, gebt ihn mir. Den brauch ich für mein‘ Kumpel. Vielleicht kann man ihn ja wieder…“
„Der Heinrich kriegt datt schon hin.“ Willy ist immer noch ganz verdattert. Damit hat er im Leben nicht gerechnet.

„Weiß gar nich, watt ich sagen soll. Du schenkst mir immer so tolle Sachen. Damals die Fotografie vom Crystal Palace und jetzt…“
„Schon gut, mein Junge. Dein Vadder hat mir damals auch geholfen. Wenne Deinen Verein endlich aufgemacht hast und Ihr spielt irgendwann mal gegen Sheffield oder so, dann kannste ja an mich denken.“
„Datt kann aber noch dauern.“ lacht Willy, dessen Augen gleichzeitig feucht schimmern. „Im Moment wär ich schon glücklich, wenn wir bald gegen die Sechsundneunziger spielen würden. Und der Duisburger Spielverein wäre sowieso ein Traum. Aber ich muss den Heinrich, den Viktor und die Andern erst noch überreden.“
„Wenn ich nich schon so ’n alter Sack wär, wär ich ja sofort dabei. Aber ich mit meine kaputten Knochen…“

Im September 1886 hatte ein großes Unglück auf Consol 50 Todesopfer gefordert. Der Kettwiesel war im Hospital aufgewacht und hatte erfahren, dass sein bester Freund unter diesen Opfern gewesen war. Halbwegs genesen war er dann von einem zum anderen Tag einfach fort gegangen. Niemand wusste wohin. Vor ungefähr drei Jahren war er plötzlich wieder aufgetaucht. Krank vor Heimweh nach seinem Schalke. Aber sein Schalke, so wie er es verlassen hatte, gab es quasi nicht mehr. Es hatte sich in den anderthalb Jahrzehnten, in denen sich der Kettwiesel in der Welt herum getrieben hatte, unglaublich viel verändert. Veränderungen die erst in diesem Jahr darin gipfelten, dass das zuvor selbständige Amt Schalke mit Gelsenkirchen zu einer Großstadt vereint wurde. „Datt is die größte Sauerei, datt die das gemacht haben.“, pflegt der Kettwiesel sich immer aufzuregen, wenn man ihn darauf anspricht.

Willys Vater hatte ihn nach seiner Rückkehr wieder mitgenommen auf Consol. Unten im Schacht hatte der Kettwiesel aber gleich am ersten Tag hyperventiliert und am zweiten wie ein Irrer getobt. Willys Vater hatte schließlich bei Prczykowsky ein gutes Wort für den Kettwiesel eingelegt. Seitdem arbeitet er dort tagsüber als Bäckergehilfe, macht die Öfen sauber und dergleichen. Abends hilft er bei Dittmar in der Kegelbahn und hat dort auch einen Platz zum Schlafen.

Um Mitternacht, geht Willy an der Seite seines Vaters die Gewerkenstraße runter Richtung Schalker Markt. Sie biegen in die Schalker Straße ein, die parallel zur Kaiserstraße verläuft. Wo die Sechsundneunziger in ihren vornehmen Häusern wohnen. Am liebsten würde Willy deshalb stolz mit seinem Ball, den er wie einen kostbaren Schatz unter seinem Arm trägt, die Kaiserstraße entlang flanieren. Aber er folgt seinem Vater. Über die Grillostraße gehen sie zurück nach Hause.

Noch in seinen Träumen verfolgt ihn das Feuerwerk. Er und seine Mannschaftskameraden haben Haus Goor festlich geschmückt. Haben zwei Tore und Eckfahnen auf die Wiese gestellt. Am Horizont erscheint plötzlich ein Flugzeug vom Kettwiesel gesteuert, der ihm einen Ball, nein seinen Ball, zuwirft….

„1904 Geschichten“.
Die Bitte geht an Alle: wenn ihr etwas habt aus über 100 königsblauen Jahren, etwas Wahres und/oder Interessantes über Schalke, das ihr teilen wollt, Erlebnisse die erinnernswert sind oder ganz einfach Schilderungen, wie es war, wie man sich Eintrittskarten besorgte, wo in der Glückaufkampfbahn, dem Parkstadion oder der Arena man „daheim“ war, wie man dahin kam und wie es da zuging, oder was auch immer vielleicht jemand, der Schalke nur vom Fernsehen oder aus der Zeitung kennt, nie oder niemals wirklich wissen kann – aber vielleicht sollte – schickt mir (matthias.berghoefer[at]web.de) einfach eure Texte, Dreizeiler oder halbe Romane und egal wie’s mit Rechtschreibung aussieht. Klar erkennbar muss sein, ob es sich um eine wahre Geschichte handelt oder um einen Prosatext, also einen konstruierten, erfundenen, der etwas Bestimmtes ausdrücken will in Bezug auf den FC Schalke 04.
Wichtig ist natürlich auch, dass ihr kein Problem damit habt, dass euer Text hier, und vielleicht auch irgendwann mal in einem Buch, veröffentlicht wird – natürlich unter eurem Namen, oder einem „Pseudonym“ falls euch das aus irgendeinem Grund lieber ist.
1904 Geschichten sind eine Menge Holz. Ich bin mal gespannt.

Eine Antwort zu “Am Goldnen Hochzeitstage (Teil 3)

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