Die Welt ist nicht nur königsblau. Oder doch?

Enrico lebt in Magdeburg und ist seit der WM1990 vom Fußballfieber besessen, sah sein erstes Spiel im Parkstadion fünf Jahre später, ist inzwischen längst Dauerkarteninhaber und schreibt immer wieder mal über Fußball, im Netz und auch für Schalke Unser.

Enrico erinnert sich an seinen 11.September, heute vor genau zehn Jahren, einen Tag, den er wegen Schalke ganz anders erlebte als wohl nahezu der gesamte Rest der Welt.

Dienstagmittag, noch einige Stunden bis zum Anpfiff in Gelsenkirchen. Wie immer, wenn unsere Truppe zwangsläufig mit dem Auto anreisen musste, hörten wir die ganze Fahrt über Musik aus der Konserve und vertrieben uns die Zeit mit Gesprächen und Kaltgetränken. Die Zeit verging so mehr oder weniger im Fluge. Wie wahnsinnig hatte ich mich auf dieses Spiel unserer Blauen gefreut. Diese Art von Spiel sollte ja für uns alle das erste sein.

Im Stadion war ich natürlich noch mehr gespannt auf das, was gleich passieren sollte. Irgendwie fand ich aber, dass die Leute heute komisch drauf sind. Ist es denn die Aufregung vor dem Spiel? Einzig die Grünen dort in der Gästekurve wärmen sich stimmungsmäßig auf. Eine seltsame Atmosphäre herrscht hier. Die Werbung am Videowürfel wurde abgehängt. Repressalien des Verbandes, oder? In Ordnung, dass kann ich verstehen. Aber warum darf hier unser Programm vor dem Spiel nicht abgespielt werden, wie wir es von allen anderen Spielen kennen? Selbst unsere Mannschaftaufstellung wurde nur so lapidar verlesen. Was soll das? Ist das immer so bei solchen Spielen? Ist denn Stimmung auch nicht gewünscht? Keine Ahnung, für uns gab es das ja noch nicht in dieser Form.

Direkt vor dem Spiel hielt Bernd eine Ansprache. Was ist denn passiert? Man hat sich entschlossen, das Spiel stattfinden zu lassen. Spielausfall? Warum? Ich bin doch extra wegen dieses Spiels hier heute angereist. Und viele tausend andere hier ebenso. Am letzten Samstag hatte ich freiwillig gearbeitet, damit ich heute für das Spiel frei bekomme. Und dann vielleicht noch Spielabsage? Häh? Bernd berichtet von Terror und eingestürzten Gebäuden. New York? Am anderen Ende der Welt? Hier ist Gelsenkirchen, hier ist Schalke. Was geht ab? Ich hatte keine Ahnung, was in der Welt passiert ist. Mehr noch, ich konnte mir darunter überhaupt nichts vorstellen. Für mich zählte heute nur der erste Auftritt unseres FC Schalke 04 in der Champions League gegen Panathinaikos AO aus Athen.

Die bedächtige Stimmung im Stadion zog sich dann irgendwie durch das ganze Spiel. Übertragen wurde das leider auch auf unsere Mannschaft: mit 2:0 haben wir das Spiel verloren. Die Leistung der Blauen war mehr als schlecht. Und das hat mich ziemlich aufgeregt. Da ich immer noch nicht so richtig wusste, was da draußen in der Welt passiert ist, zählte für mich irgendwie weiterhin nur das Spiel.

Da wir weiterhin keine Ahnung vom Weltgeschehen hatten, hörten wir auf der Rückfahrt die ganze Zeit Radio. Wir hatten also auf der Hinfahrt die Welt für vier Stunden aus den Augen verloren und waren vom Rest abgekoppelt. Quasi ein Filmriss. Wir hatten nur Sinn für Schalke, deswegen waren wir ja auch unterwegs. Und nun hören wir was von Flugzeugen, Terroranschlägen in New York und Washington, eingestürzten Zwillingstürmen und vielen Toten. World Trade Center? Irgendwie konnte ich mir das alles weiterhin noch nicht vorstellen.

Als ich gegen 4.00 Uhr am nächsten Morgen zu Hause war, hatte ich gleich den Fernseher angestellt und die Tragödie dann zum ersten Mal gesehen. Was da gestern passierte, war einfach unvorstellbar. Unfassbar. Nun war mir auch klar, warum die Stimmung im Stadion so seltsam war, warum Bernd eine Ansprache hielt, dass man überlegt hatte, das Spiel erst gar nicht anzupfeifen. Wir hatten also die Tragödie am 11. September 2001 quasi verpasst, weil wir total auf Schalke fixiert nach Gelsenkirchen zum Spiel gefahren sind. Von alledem hatten wir nichts mitbekommen.

Auf der einen Seite zeigt diese Tragödie, dass es noch Wichtigeres, Bedeutenderes als Schalke 04 oder all die anderen schönen Dinge des Lebens gibt. Auf der anderen Seite wurde aber auch gezeigt, dass sich die Welt trotzdem weiterdreht. Um Schalke 04. Mehr oder weniger.


„1904 Geschichten“.
Die Bitte geht an Alle: wenn ihr etwas habt aus über 100 königsblauen Jahren, etwas Wahres über Schalke, das ihr teilen wollt, Erlebnisse die erinnernswert sind oder ganz einfach Schilderungen, wie es war, wie man sich Eintrittskarten besorgte, wo in der Glückaufkampfbahn, dem Parkstadion oder der Arena man „daheim“ war, wie man dahin kam und wie es da zuging, oder was auch immer vielleicht jemand, der Schalke nur vom Fernsehen oder aus der Zeitung kennt, nie oder niemals wirklich wissen kann – aber vielleicht sollte – schickt mir (matthias.berghoefer[at]web.de) einfach eure Texte, Dreizeiler oder halbe Romane und egal wie’s mit Rechtschreibung aussieht. Hauptsache das, was ihr erzählt, ist wirklich wahr, man erkennt um welches Jahr es geht (wenigstens ungefähr) und ihr habt kein Problem damit, dass es hier, und vielleicht auch irgendwann mal in einem Buch, veröffentlicht wird – natürlich unter eurem Namen, oder einem „Pseudonym“ falls euch das aus irgendeinem Grund lieber ist.
1904 Geschichten sind eine Menge Holz. Ich bin mal gespannt.

3 Antworten zu “Die Welt ist nicht nur königsblau. Oder doch?

  1. Bei mir war es auch so.
    Hatte das alles gar nicht mitbekommen und bin früh losgefahren. Traditionell die Schalke-CD rein und voller Vorfreude ab in die Arena. Da war dann schon diese ungewohnte klassische Beruhigungsmusik, die ich total unangebracht fand. Habe es aber auf die CL geschoben. Da muss das wohl so sein…
    Erst kurz vor dem Anpfiff sprach mein Sitznachbar von „3. Weltkrieg und so“.
    Viele Stunden später musste ich per Fernseher erstmal auf dem Laufenden gebracht werden… ein doofer Tag!

  2. Es war an diesem Tag ein nie dagewesener Zwiespalt bei einem Spiel meines Vereins. Hingehen oder zu Hause bleiben war die Frage, ich bin hingegangen, aber war mit den Gedanken in New York. Noch auf dem Parkplatz beim Bauern habe ich Radio gehört und gehofft, dass das Spiel abgesagt wird. Viele falsche Entscheidungen an einem schwarzen Tag.

  3. Ich finde es echt Menschenverachtend, dass dieses Spiel überhaupt noch stattgefunden hat. An so einem Tag kann man nicht mehr an Fußball denken.
    ——————————————————————————————————
    http://www.schalker-megafon.de/component/mmsblog/21-10-jahre-und-ein-fehler.html

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