”Buddes” wurde noch in der GlückAuf-Kampfbahn mit Schalke infiziert, sah sein erstes Auswärtsspiel an der Castroper Strasse, entspannt sich von Königsblau auf der Alm, will immer noch Meister werden und findet Titel für den Briefkopf gut.
Heute nimmt uns „Buddes“ mit in den April 1972 und zu einem für ihn in mehrerer Hinsicht besonderen Spiel in der Glückauf-Kampfbahn.
Bevor ich mein erstes Heimspiel des FC Schalke 04 sah, brachte die Vorgeschichte eine Klatsche: 0:7 gegen Borussia Mönchengladbach in der Hinrunde 1971/72. In unserer Straße in Recklinghausen war die Niederlage das Thema, weil fast alle Nachbarn Majas waren; selbst mein Alter Herr, der auf König Ludwig III/IV, später auf Haus Aden unter Tage einfuhr, der in seiner Jugend geboxt hatte und sich nur mäßig für Fußball interessierte, redete über die Bundesliga und feixte über dieses Spiel. Pure Schadenfreude allüberall. Der BVB hatte ein paar Jahre zuvor den Europapokal gewonnen, darauf war man stolz. Oder auf Wembley 66. Aber die Schalker? Niemand mochte die. Meine Mutter fand Fans in Schals und Weste, gleich welcher Couleur, womöglich noch mit Banner und Tröte, entsetzlich. Sie erschienen ihr als ein Sinnbild des Sittenverfalls, als die Wiederkehr der Barbaren. Und Schalker waren für sie die Horden Dschingis Khans, also die Schlimmsten.
In dieser häuslichen Gemengelage überredete mich im April 72 mein Kumpel Schöller das Pokalrückspiel im Viertelfinale gegen Gladbach zu besuchen. Schöller hieß eigentlich Lothar, aß Eis, wenn andere rauchten oder Bier tranken und war trotz seiner maßlosen Kalorienzufuhr ein halbes Handtuch. Er war zwei Jahre älter als ich und kam aus Recklinghausen-Süd, damals auch nicht gerade Schalke-Territorium. Schöller war aber durch seinen in Gelsenkirchen geborenen Papa königsblau infiziert. Auf den Ärger in meinem Zuhause pfiff ich, mittlerweile war ich vierzehn. Meine Mutter sah ihren Sohn zusammen mit dem Abendland versinken und mein Alter drohte mit Feuer und Schwert. Das Spiel war schließlich mitten in der Woche. Außerdem, so erfuhr ich später, hätte er es lieber gesehen, dass ich in die Rote Erde fuhr. Alle fuhren dahin, sein Sohn sollte nicht anders werden als alle anderen aus seiner Straße. Gesagt hat er aber nie etwas.
Das halbe Handtuch und ich fuhren also mit dem Zug von Recklinghausen nach Wanne, dann weiter nach Gelsenkirchen und latschten ausgestattet mit Schals und der Fahne von Schöllers Papa in die Kurt-Schuhmacher-Straße. „Lasst euch dat Dingens nich wech nehmen,“ hatte der uns mit auf den Weg gegeben. „Vonne Tribüne aus kann ich nix für euch tun.“ Schon der Anmarsch trieb uns das Blut in die Adern. Aus allen Ecken strömte die Menge. Je näher wir dem Stadion kamen, desto klarer wurde mir die Bedeutung seines Namens: Glück-Auf Kampfbahn. Hier wird was ausgefochten, sagte er mir, hier wird gekämpft für die richtigen Farben. Dann die kleinen Kassenhäuschen, die Gitter – das Volk. Die Männer schienen zum Teil direkt von der Schicht zu kommen. Waschen, bürsten, kurz „GlückAuf!“ gesagt und ab ins Stadion. Bei manchen sah ich um die Augenpartien oder unter den Nägeln noch den Kohlenstaub. Das fiel mir deshalb auf, weil mein Alter Herr peinlichst genau darauf achtete, dass er nach Verlassen der Kaue eben nicht so aussah. Aber er ging ja auch nicht zum Fußball. Überhaupt sahen wir nur Männer und Jungs, weibliche Fans gab es wenig.
Dann herein spaziert. Ziemlich nah sind wir ran an die damalige Nordkurve: Kuttenträger, Gammler (wie es damals hieß), dicke Willis mit nackten Oberkörpern oder mit Schalke-Emblemen bestickten Westen, mit Fahnen und Doppelhaltern, mit Kopfbedeckungen aller Art und verstörenden Tröten. Die gesamte Szenerie transportierte pure Erregung und signalisierte uns ein wildes Fest, als fielen Altamont und Bundesjugendspiele zusammen. Zum ersten Mal hörte ich live die großen Namen, sah große Spieler: Norbert Nigbur, Jürgen Sobieray, Stan Libuda, Aki Lütkebohmert, die Kremers-Zwillinge, Tanne Fichtel, Rolle Rüssmann. Die Königsblauen gewannen schließlich 1:0, Klaus Scheer, der blonde Löwe, schoss es zwei Minuten vor Abpfiff. Nach dem 2:2 im Hinspiel reichte das: die Gladdies waren raus, und die 0:7 Klatsche vom 12. Spieltag war damit gerächt. Uns war damals noch nicht klar, dass wir eine große Mannschaft sahen und den Zipfel einer Ära erwischten, die in Vizemeisterschaft und DFB-Pokalsieg gipfeln sollte.
Während des Spiels standen wir auf der Gegengeraden direkt neben der Schalker Kurve und bemühten uns lässig auszusehen, als wären wir seit Einführung der Bundesliga dabei. Überall waren kleine Grüppchen Gladbacher, die nach dem späten Tor plötzlich allzu munter wurden. Jenseits der Trenngitter zum Schalker Block war ebenfalls große Unruhe, einige Schwindelfreie kletterten zu uns rüber. Die Menge war in Bewegung, und wir hingen plötzlich am Gitter fest wie die Fische im Netz. Fußballgott, wat nu? Schnell wogte alles zurück, wir hatten wieder Luft. Überall Rangeleien und Schubsereien um uns herum. Der anfängliche Schiss in der Hose wich purem Adrenalin, Schöller und ich fühlten uns mittendrin. Wir waren ja nicht allein. Dann war das Spiel zu Ende. Wir beruhigten uns etwas und raus aus der Kampfbahn.
Die Rückwege zu Straßenbahn oder Bahnhof, so die frühen Eindrücke, waren schutzpolizeitechnisch oft noch freie Wildbahn. Keine Hundertschaft geleitete die Gästefans zu ihrem Sonderzug, keine Block-Politik hielt die Lager immer auseinander. So wurde nach Spielschluss manchmal zum Halali geblasen. Versprengte in den falschen Farben wurden gejagt, ihre Devotionalien konfisziert; Einzelstücke waren besonders beliebt, so wie Schöllers vom Papa vererbte Fahne, ein schönes Ding, aus vier kleineren Bannern zusammen genäht.
Das wussten wir alles; für uns zwei halbe Portionen sollte deshalb für den Heimweg gelten: Mission Schleichweg. Doch nach diesen Aufregungen im Block hatten wir sofort vier Gladdies an den Fersen. Man kannte sich sozusagen vom Sehen, hatten die Burschen doch gerade noch zwei Reihen über uns Unruhe gestiftet. „Die kenn´ wir doch!“ riefen sie denn auch und formierten sich auf eine Weise, die wir irgendwie nicht gut fanden. Das Familienbanner durfte nicht in Gefahr geraten. Also: Fersengeld. Doch bevor wir wetzen konnten, löste sich Ottie Fischer vom Tresen einer Trinkbude, die wir gerade passieren wollten und bellte los: „Ey, ich gib´ euch gleich ein´ !“ Ottie Fischer, so sollten wir bald erfahren, nannte sich eigentlich Udo und hatte, ebenso wie der Kollege neben ihm und der Verkäufer in der Bude, die richtigen Farben. Unter seinem Bauch schaukelte ein Schalke-Schal-Rock, über seinem Rücken hing eine riesige Tröte. „Ihr Zwerchgaloppaa wollt kleine Schalkaa anne Wäsche?“ stellte er die Gretchen-Frage in Richtung Fohlen-Fans und trennte sich bedächtig von seinem Bier. Auch der Trinkbudenwart kam jetzt vor die Tür: „Die wolln hier echt den Lärri machen,“ konstatierte er. Der dritte Typ drehte sich um. Unter seiner mit Buttons übersäten Lederjacke leuchtete ein Schalke-Trikot. An seinen tätowierten Unterarmen, die er jetzt vor der Brust verschränkte, zeigte er mit blauweißen Schweißbändern ebenfalls für welche Farben sein Herz schlug. Er grübelte finster in die atemlose Runde. Dann schien ihm etwas einzufallen, und er lächelte: „Aba dat kommt eintlich jetz sowat von richtich, wat sachse Uuudo?“ Puh! Wir schnauften durch. Die Borussen schimpften und motzten, dann noch ein Knurren von Schalker Seite und das Fohlen-Kleeblatt kratzte die Kurve.
Die Schalker Trinkbudenbesatzung klopfte uns auf die schmächtigen Schultern: „Dat sintse, die Gladdies, wa?“ Alles grinste. „Aber Schalkaa halt´n zusamm´, dat isso!“ Im Zug wärmte uns dann nicht nur der Kurze, den wir mit den Rettern zur Besiegelung unserer neuen Bekanntschaft schlucken mussten. Viel stärker war das Gefühl, drei neue Kumpel gewonnen zu haben, weil wir anscheinend genau wie sie als Schalker wahrgenommen wurden. Und erst in diesem Augenblick wurde mir klar, was das ist – ein Schalker. Und dass ich einer bin.
„1904 Geschichten“.
Die Bitte geht an Alle: wenn ihr etwas habt aus über 100 königsblauen Jahren, etwas Wahres über Schalke, das ihr teilen wollt, Erlebnisse die erinnernswert sind oder ganz einfach Schilderungen, wie es war, wie man sich Eintrittskarten besorgte, wo in der Glückaufkampfbahn, dem Parkstadion oder der Arena man „daheim“ war, wie man dahin kam und wie es da zuging, oder was auch immer vielleicht jemand, der Schalke nur vom Fernsehen oder aus der Zeitung kennt, nie oder niemals wirklich wissen kann – aber vielleicht sollte – schickt mir (matthias.berghoefer[at]web.de) einfach eure Texte, Dreizeiler oder halbe Romane und egal wie’s mit Rechtschreibung aussieht. Hauptsache das, was ihr erzählt, ist wirklich wahr, man erkennt um welches Jahr es geht (wenigstens ungefähr) und ihr habt kein Problem damit, dass es hier, und vielleicht auch irgendwann mal in einem Buch, veröffentlicht wird – natürlich unter eurem Namen, oder einem „Pseudonym“ falls euch das aus irgendeinem Grund lieber ist.
1904 Geschichten sind eine Menge Holz. Ich bin mal gespannt.