Jan Schneemann ist kein Allesfahrer und kein DK Besitzer, weil das im Parkstadion nicht notwendig war und er beim Umzug in die Arena für einige Jahre im Ausland lebte. Trotzdem ist er auch heute noch immer wieder mal „auf Schalke“ und auch auswärts anzutreffen.
Heute schreibt Jan Schneemann über zwanzig Jahre Schalker sein, von „nahe dran“ Ende der Siebziger bis zum Mai 1997, als Schottland königsblau wurde…
Wer, wie ich, 1972 geboren wurde und dadurch den letzten Pokalsieg der Schalker Mannschaft für knapp 30 Jahre leider nicht mitfeiern konnte, der hatte auch lange Zeit nichts zu feiern mit seinem Verein S04 (von einer Meisterschaft ganz zu schweigen). Der Bundesligaskandal zeigte seine Folgen. Schalke stieg dreimal ab. Ein Wunder, wie man damals eigentlich Schalkefan werden (und bleiben) konnte. Meine Erinnerung hierzu setzt jedenfalls in etwa mit der Einschulung 1978 in Marl ein. Da war ich schon Schalker. Keine Ahnung, wie es dazu eigentlich kam. Ist auch in Marl (unweit von Gelsenkirchen, wo auch nicht selten mal Spieler wohnten und wo früher die Mannschaft vor dem Spiel im Hotel Loemühle essen ging und ich dann als kleiner Steppke samstags hin fuhr, um mir Autogramme zu holen) alles andere als selbstverständlich. Zumal Ende der Siebziger Jahre. Denn in der Grundschule gab es eigentlich nur zwei Fangruppen: Gladbacher und Bayern. Zudem kommt mein Vater aus Niedersachsen und sympathisiert ergo mit Braunschweig und Hannover. Ein Heimspiel gegen Eintracht Braunschweig war dann auch mein erster Besuch im Parkstation. Ich kann mich nun auch nur an einen einzigen Schalkefan aus der Grundschulzeit erinnern: Basti. Der den Vorteil hatte, einen ebenfalls Schalke süchtigen großen Bruder zu haben, der ihn mitnahm (und später mich auch).
Was mich in all den Jahren bis 1996 neben den Abstiegen und ausbleibenden Titeln auch etwas ärgerte – und dabei spielte Neid sicher mit eine Rolle-, es gab kein Sky oder Internet-Livestreams. Entweder man war im Stadion oder saß vor dem Radio. Im Fernsehen wurden seinerzeit regelmäßig nur Pokalspiele übertragen, zumeist aus den internationalen Wettbewerben. Was hätte man nicht dafür gegeben, seinen Verein und die tolle Stimmung auch mal anderen Freunden zu zeigen. Das ging damals nur, wenn man seine Leute mit ins Stadion nahm. Oh, wie beneidete ich manchmal die Fans von Bayern, Bremen und Leverkusen, denen dieses Privileg häufiger zustand, Spiele aus internationalen Wettbewerben im Fernsehen sehen zu können, bei denen auch noch regelmäßig (jedenfalls damals) gute Stimmung herrschte. Wie würde das erst aussehen, wenn sie mal Schalke zeigten? Ich stellte mir das jedenfalls so viel geiler vor, als bei Dauerregen eine trostlose Heimniederlage im Abstiegskampf der zweiten Liga an irgendeinem Novemberwochenende in den 80er Jahren in der guten alten Betonschüssel namens Parkstadion mit ansehen zu müssen.
Dann kam die sagenhafte Qualifikation für den UEFA Pokal 1996. Was hätte man bis zu diesem Zeitpunkt dafür gegeben, um einmal im sogenannten UI-Cup gegen Bratislava oder Helsinki oder was weiß ich zu spielen. Und plötzlich war man direkt qualifiziert. In der Zeit 1992 bis 1996 war ich Student und konnte durch die relativ freie Stundenauswahl an der Uni ziemlich viele Heim- und Auswärtsspiele verfolgen, so dass ich auch noch glaubte, meinen Teil zu diesem Erfolg beigetragen zu haben. Und in der Folgesaison 1996/97 geschah das Unglaubliche: Schalke flog nicht etwa in der ersten Runde raus, auch nicht in der zweiten und spielte auf einmal gegen Brügge im Achtelfinale. Es waren nicht nur die ersten internationalen Auftritte meines Vereins seit 20 Jahren, es war auch das erste Achtelfinale eines europäischen Wettbewerbs, an das ich mich erinnere. Jedenfalls war dieses Spiel auch mein letztes Heimspiel in dieser UEFA-Pokalsaison im Jahr 1996. Es regnete etwas im Dezember, aber die Stimmung war gut, denn Schalke hatte sich mit einem 2:0 nach der Schneeschlacht von Brügge (inkl. verschossenem Elfmeter und anschließendem Eckballtor – Wahnsinn!) ins Viertelfinale geschossen. Ich hätte nie darauf gewettet, dass wir so weit kommen.
Das Leben ging abseits des Vereins nun allerdings auch irgendwie weiter. Am 4. März 1997 bestand ich mein Examen. Ich beeilte mich, ohne große Feier vor Ort in Düsseldorf, schnellstmöglich nach Hause zu kommen, denn am 4. März sollte es im Viertelfinale weitergehen und endlich wurden unsere Spiele im Fernsehen übertragen! Was für ein Tag. Examen in der Tasche und Schalke gewinnt 2:0. Und obwohl ich nicht im Stadion war, konnte ich das Spiel live erleben! Da ich mich allerdings unmittelbar im Nachgang zu meinem Examen bereits für einen mehrmonatigen Englischkurs an der Uni Edinburgh eingeschrieben hatte, stand ich nun vor der Schwierigkeit, vor Ort in Edinburgh eine Kneipe zu finden, in der auch regelmäßig UEFA-Pokalspiele mit Schalker Beteiligung gezeigt wurden. (Ich glaube zwar nicht, dass ich meine Studien- und damit Berufsziele komplett dem Schalker Terminkalender untergeordnet hätte, aber nie im Leben wäre ich davon ausgegangen, dass wir ins Viertelfinale kommen und nie im Leben hätte ich mir damals das Endspiel im Mai 1997 komplett frei gehalten, zumal, wenn man die Vorlaufzeiten für so eine Planung hinsichtlich eines Auslandstudiums bedenkt).
Gott-sei-Dank gab es sowas auf der Insel. Meine Heimtatstätte für die erfolgreichen Partien gegen Valencia (Rückspiel), Teneriffa (Hin- und Rückspiel) und Mailand (Hinspiel) wurde ein Irish Pub im Herzen von Edinburgh. Selbstverständlich hatte ich Schalketrikot, Schalkejacke und Schals mitgenommen, die ich nicht nur auf dem Weg zur Uni, sondern mitunter auch in der Kneipe anhatte („no colors “ eine häufig auf der Insel anzutreffende Beschränkung für Gäste zur Vermeidung von Pöbeleien, gab es dort nicht). Anfangs musste ich noch jedem erklären, wo dieses „Schalke“ eigentlich her kommt (schließlich wird man Vereine wie St. Pauli und Schalke – anders als Dortmund, Bayern oder Bremen – nicht ohne Weiteres der Landkarte zuordnen). Je weiter Schalke kam und je öfter ich davon erzählte und je mehr die Zeitungen und Fernsehsender berichteten, desto mehr Studenten klopften mir nach den Spielen morgens in der Uni auf die Schultern. Dann das 1:0 durch Wilmots und wir waren nur ein Spiel vom ersten Titel und größten Triumpf des Vereins entfernt.
Und ich saß in Schottland.
Aber immerhin war ich bis zum Achtelfinale daheim und teilweise auch dabei im Stadion und immerhin konnte ich auch jetzt die Spiele zumindest am Fernseher verfolgen.
Denkste.
Das Rückspiel wurde nicht übertragen. Ich meine mich zu erinnern, dass die irische Nationalmannschaft zeitgleich irgendein Freundschaftsspiel hatte. Es stellte sich auch heraus, dass der Irish Pub eher eine Ausnahme war. Die meisten anderen Kneipen zeigten gar keine internationalen Spiele, wenn nicht eine englische oder schottische Mannschaft dabei war.
Nun war guter Rat teuer. Bis zum Endspieltag selbst fand ich auch keine Alternative. Mittags ging ich nicht in die Unimensa und suchte stattdessen einen kleinen Italiener unweit der Uni auf, um dort nach Rat zu fragen. Ich war zuvor bereits ein paar male da und kannte den Koch flüchtig. Immerhin spielte Schalke gegen Mailand. Da konnte es ja sein, dass sie das Spiel dort zeigten. War leider nicht der Fall. Restaurant ist nicht Kneipe. Aber der Koch, selbst Neapel-Fan, versicherte mir, er würde das Spiel in der Restaurant-Küche schauen. Während der Arbeit. Es würde ihn auch nicht stören, wenn ich mit schaute. Ganz im Gegenteil, wir könnten vielleicht auch nach getaner Arbeit ein Bierchen zusammen trinken. So kam ich also abends zum italienischen Restaurant, ging an den etwas erstaunt blickenden Gästen schnurstracks vorbei in die Küche, bekam direkt das erste Bier eingeschenkt und durfte mir anhören, dass man dort am liebsten ein 0:1 sehen würde, anschließend Verlängerung und dann einen Schalker Sieg im Elfmeterschießen.
„Warum denn das?“ brach es aus mir heraus. Nun, die Erklärung war einfach. Kein Neapel Fan würde Inter einen Titel gönnen. Aber da Mailand in der Liga der nächste Gegner war, wäre ein Schalker Sieg in regulärer Spielzeit nicht das beste Ergebnis. Besser wäre ein langer Leidensweg und ein total erschöpftes, frustriertes Inter, das dann im Ligaspiel für Neapel einfache Beute wäre. Au weia dachte ich. Wenn das so kommt, liege ich mit Herzinfarkt hier in der Küche eines italienischen Restaurants im Herzen von Edinburgh.
Der Spielverlauf ist bekannt. Es kam, wie von meinem italienischen Koch gewünscht. Ich will nur kurz erwähnen, dass es freilich bei einem Bier nicht blieb, dass ich während der 120 Minuten plus x das halbe Restaurant zusammen schrie, aber nachdem der Koch die Gäste aufgeklärt hatte, das Restaurant eine halbe Stunde nach dem Sieg sogar unter Applaus der anwesenden Gäste verließ und übrigens auch nicht für die (im Ergebnis dann auch mehr als zwei) Bier zahlen musste. Ich fuhr nach dem Sieg noch zum Irish Pub und gab einige Runden an die dort anwesenden Mitstudenten aus. Wie ich (mit dem Rad) nach Hause kam, weiß ich in der Erinnerung auch nicht mehr genau.
Aber nach einigen Aspirin kam ich am nächsten Morgen noch einigermaßen pünktlich in die Uni. Wir hatten dort eine kleine Cafeteria, wo sich Stundenten aber auch Leerkräfte trafen. Als ich da mit meiner blau-weißen S04-Jacke nach der Triumphnacht von San Siro vorbei kam, klatschten viele und hielten mit schon die Zeitungsmeldungen entgegen, die ich freudig mitnahm (ich hatte übrigens Matthias Berghöfer einige Kopien davon versprochen, aber leider noch immer nicht die Ausschnitte wieder gefunden, die zusammen mit den Zeitungsartikeln aus ca. 30 Jahren rund um Schalke in irgendeiner Kiste im Keller schlummern müssen).
An diesem Morgen musste ich auf einmal niemandem mehr erklären, wo Schalke (und auch Marl) eigentlich liegen. Das taten mittlerweile andere für mich. Wer noch immer nicht wusste, wofür S04 auf meiner Jacke stand, wurde von ausländischen Mit-Studenten freundlich aufgeklärt, auch über die Trinkfreude und Gastfreundschaft der Bewohner des Ruhrgebiets, für die offensichtlich ich (und der Vorabend) verantwortlich gemacht wurde.
Eigentlich hätte diese kleine Geschichte hier enden können.
Nämlich in einem überglücklichen Taumel der Gefühle darüber, dass wir endlich mal was gewonnen hatten und ich irgendwie doch dabei war, obwohl nicht im Stadion. Und mit der Genugtuung, dass es Spiele meiner Mannschaft im Fernsehen zu sehen gab und man selbst in Schottland tausende Schalker Arm-in-Arm sehen konnte und jedem klar war, hier hat nicht irgendein Verein irgendwas gewonnen.
Aber noch blieben mir ein paar Wochen in Edinburgh.
In den nächsten Tagen bekam ich unzählige Briefe und Pakete nach Schottland geschickt. Freunde und Verwandte, teils Leute, von denen ich seit Jahren nichts gehört hatte, hatten offenbar daheim in Deutschland angerufen, um mir zu gratulieren. Als sie nun erfuhren, dass ich für einige Monate im Ausland weilte, hatten sie sich über meine Eltern meine Adresse in Schottland besorgt.
Ich war wirklich gerührt. Unter anderem kam ein Paket mit Kiloweise Kinderschokolade an (das Zeug esse ich heute noch sehr, sehr gerne; egal, wie ungesund es sein mag). Das ließ sich auch viel einfacher verschicken als Sekt oder Bier und war zudem irgendwie typisch deutsch. Etwas, das ich vor Ort nicht bequem selbst besorgen konnte.
Jedenfalls wohnte ich in diesen Monaten in Edinburgh bei einer Gastfamilie (die selbstredend auch alles über Schalke erfahren haben in diesen Monaten), deren älteste Tochter 8 war. Ihre Lehrerin hatte ein Faible für Deutschland und hat sie dann mal gefragt, ob ich nicht einen Vormittag mit in die Schule kommen und den Kindern von Deutschland erzählen könnte. Ich nahm zu dieser Gelegenheit freilich die ganze (typisch deutsche) Schokolade mit. Ich musste dann vor der 2. Grundschulklasse gar nicht lange schwadronieren, wo ich herkomme. Mittlerweile hatte nach Schalke auch noch unser östlicher Reviernachbar einen europäischen Titel geholt und die halbe Klasse, wusste, wo Dortmund und Schalke liegen, nämlich im sogenannten Ruhrgebiet. Eine Industriezone im Wandel. Wer z.B. mal in Glasgow war (unweit von Edinburgh im Westen), der kann sich vielleicht vorstellen, dass es selbst im beschaulichen Schottland neben Highlands und Whisky auch Industriegebiete gibt, die ähnliche Probleme haben wie wir und in denen der Fußball die einzige Konstante scheint. Die Grundschüler waren über meine Erläuterung zum deutschen Fußball, zu unseren Autobahnen (wurde alles nachgefragt) und zum deutschen Bier (nein, das trinken Grundschüler bei uns in Deutschland regelmäßig noch nicht) offenbar schwer begeistert. Ich musste viele Fragen beantworten. Eine Stunde reichte gar nicht aus. Anschließend verteilte ich noch die Kinderschokolade und schaute dabei in riesengroße, überglückliche Kinderaugen.
Was für eine Zeit im Mai 1997. Auf einmal wussten schottische Grundschüler(!), dass Schalke und Dortmund Reviernachbarn sind und eigentlich Spiele zwischen ihnen so aussehen mussten, wie zwischen Celtic und Rangers, dass aber beide gerade den größten Vereinserfolg feierten und für eine kurze Zeit (wie beim Asterix-Heft am Ende einer jeden Episode beim Wildschweinessen) sich alle mehr oder weniger in den Armen lagen. Wahnsinn!
Eine Woche später bekam ich noch einen Brief von der Grundschullehrerin. Alle Schüler ihrer Klasse hatten sich in einem kleinen Schreiben herzlichst bei mir bedankt für diese eine interessante Stunde, in der sie doch so viel über Deutschland erfahren durften.
Jeder Zweite hatte unter seinen Dankesbrief auch noch was gemalt. Entweder das Wörtchen „Kinderschokolade“ (in schwarzer Schrift, rot-weiß umrahmt). Oder das Schalker Wappen. Blau und weiß. Ein „S“ und ein „04“ von einem großen „G“ umrahmt. Ein paar Schüler schrieben nur zwei Worte. „Danke“ und „Schalke“.
„1904 Geschichten“.
Die Bitte geht an Alle: wenn ihr etwas habt aus über 100 königsblauen Jahren, etwas Wahres über Schalke, das ihr teilen wollt, Erlebnisse die erinnernswert sind oder ganz einfach Schilderungen, wie es war, wie man sich Eintrittskarten besorgte, wo in der Glückaufkampfbahn, dem Parkstadion oder der Arena man „daheim“ war, wie man dahin kam und wie es da zuging, oder was auch immer vielleicht jemand, der Schalke nur vom Fernsehen oder aus der Zeitung kennt, nie oder niemals wirklich wissen kann – aber vielleicht sollte – schickt mir (matthias.berghoefer[at]web.de) einfach eure Texte, Dreizeiler oder halbe Romane und egal wie’s mit Rechtschreibung aussieht. Hauptsache das, was ihr erzählt, ist wirklich wahr, man erkennt um welches Jahr es geht (wenigstens ungefähr) und ihr habt kein Problem damit, dass es hier, und vielleicht auch irgendwann mal in einem Buch, veröffentlicht wird – natürlich unter eurem Namen, oder einem „Pseudonym“ falls euch das aus irgendeinem Grund lieber ist.
1904 Geschichten sind eine Menge Holz. Ich bin mal gespannt.